Kinder, Jugendamt

Kindeswohl in Gefahr: Das kann körperliche oder sexuelle Gewalt bedeuten, aber auch Vernachlässigung.

02.08.2023 - 06:22:15

Bundesamt legt Zahlen zu Kindeswohlgefährdung vor. Experten sehen zwar mehr Sensibilisierung beim Thema - aber auch extrem belastete Kinderschutzhäuser.

Das Statistische Bundesamt legt heute die Zahlen zu Fällen von Kindeswohlgefährdung in Deutschland vor. Während der Pandemiejahre hatten die bekanntgewordenen Fälle Höchststände erreicht - wird es nun wieder ein Abflachen der Fallzahlen geben?

Dabei sehen Julia Wahnschaffe und Barbara Becker, die Geschäftsführerinnen des Kinderschutzbund Baden-Württemberg, die hohen Zahlen nicht ausschließlich negativ, denn: «Jeder Fall, der aufgedeckt wird, ist gut.» Angesichts der vermutlich großen Dunkelziffer stehen die Zahlen auch für Menschen, die hinschauen und Verdachtsfälle melden.

«Den Kindern genau zuhören»

Ansprechpartner für Gefahrenmeldungen ist das Jugendamt. Doch auch der Kinderschutzbund hat an Schulen und Kindergärten oder Kindertagesstätten eine gestiegene Sensibilität für das Thema festgestellt. «Beim Verdacht, dass das Kindeswohl gefährdet ist, ist etwa ein Kindergarten verpflichtet, tätig zu werden und das Gespräch mit den Eltern zu suchen», sagt Becker.

«Wichtig ist, den Kindern genau zuzuhören», ergänzt Wahnschaffe zu Andeutungen, die Betroffene machen. Auch könne es sein, dass ein Kind sich anders verhalte als früher oder plötzlich nicht mehr nach Hause wolle. Da sei es eine «unheimliche Gratwanderung», nachzufragen und mehr Hinweise zu erlangen.

Auch der Kinderschutzbund erhalte Anrufe verunsicherter Eltern oder Nachbarn, die den Verdacht haben, dass Kindern in der Klasse der eigenen Kinder oder in der Nachbarschaft Vernachlässigung oder Gewalt ausgesetzt sein könnten. «Was soll ich tun, wie gehe ich damit um?» seien häufige Fragen. «Das Schlechteste ist, gar nichts zu machen», betont Becker. «Man sollte überlegen, was ist für das Kind die beste Lösung? Ist es möglich, mit den Eltern ein Gespräch zu führen?»

Die richtigen Fragen stellen

Denn ein Kind aus der Familie herauszuholen, sei das «letzte Mittel». Es könne auch überlegt werden: Was braucht die Familie, damit es dem Kind besser geht? Das gelte insbesondere in Fällen, in denen die Eltern aus Überforderung falsch handeln.

Praxis und Forschung zum Kinderschutz gibt es am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), wo mit dem Childhood-Haus Hamburg an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr Untersuchungen von Kindern vorgenommen werden können, die die sozialen Dienste als Verdachtsfälle melden. «Wir arbeiten immer im Tandem», erläutert die Oberärztin und Rechtsmedizinerin Dragana Seifert.

Während etwa sie als Rechtsmedizinerin vor allem Verletzungen einschätzen könne, die von Schlägen, Tritten oder sonstigen Misshandlungen stammen könnten, sei mit einer Kinderärztin stets auch eine Expertin für die gesundheitliche Entwicklung eines Kindes dabei. Bei Bedarf könne auch eine Psychologin und eine Sozialpädagogin aus dem interdisziplinären Team hinzugezogen werden.

Jugendamt obliegt Entscheidung

«Die Erfahrung zeigt, dass Kinder nicht nur körperliche Gewalt erleben, sondern auch gesundheitliche Vernachlässigung», sagte Seifert. Wichtig sei es, bei der Feststellung von Kindeswohlgefährdung «das Kind mit all seinen Bedürfnissen zu sehen». Während die Ärzte eine Diagnose stellen, liegt die Entscheidung, ob ein Kind in Obhut genommen werden sollte, beim Jugendamt beziehungsweise beim Familiengericht, wenn die Eltern Einspruch erheben.

Die Mediziner können nur Empfehlungen aussprechen - etwa auf sofortige Überweisung in ein Krankenhaus, wenn Kinder sehr vernachlässigt sind oder es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass die Eltern schwerstabhängig sind.

Ein Problem sei, dass Kinderschutzhäuser nicht nur in Hamburg «maximal ausgelastet» seien. Hinzu komme, dass Geschwisterkinder immer wieder aufgrund unterschiedlichen Alters und Geschlechts auf verschiedene Einrichtungen verteilt werden müssten - für die Kinder sei das vielfach eine traumatische Erfahrung. «Man muss sich darüber klar sein - Kinder, die gemeinsam Gewalt erlebt haben, hängen sehr aneinander - mehr noch als Geschwister, die in einer heilen Familie aufwachsen», betont die Ärztin.

Schnelle Betreuung scheitert oft an Wartezeiten

So gebe es beispielsweise zwölfjährige Mädchen, die seit Jahren die Mutterrolle für die jüngeren Geschwister übernommen hätten. «Wir haben zu wenig Kinderschutzhäuser und zu viele Kinder, die Schutz brauchen - das macht traurig», sagte Seifert.

Das Wohl von Kindern werde nicht ausschließlich durch Schläge beeinträchtigt. «Es gibt Kinder, die werden mit Alkohol ruhiggestellt, allein gelassen oder auf andere Art vernachlässigt».

Bei den Untersuchungen werden dann beispielsweise sprachliche oder motorische Defizite festgestellt - doch die schnelle Betreuung durch Logopäden oder Ergotherapeuten scheitere oft an langen Wartezeiten. «Wir entdecken viel, aber wir können den Kindern nicht gerecht werden, wenn sie nicht Wochen, sondern Monate auf eine Therapie warten müssen», stellt Seifert fest. «Ein Kind, das noch mitten in der Entwicklung steckt, hat diese Zeit nicht.»

@ dpa.de