Pestizidzulassung, Karlsruhe

Vor der Einführung von Pflanzenschutzmitteln befassen sich vier Bundesbehörden damit.

22.01.2024 - 07:20:51

Pestizidzulassung ist Fall für Karlsruhe. Entgegen Warnungen entscheidet am Ende oft ein Gericht in Braunschweig und es gelten Zulassungen anderer Länder.

Es geht um Unkraut, Schädlinge, Gift und die Frage, wer darüber entscheiden darf, welche Pflanzenschutzmittel in Deutschland auf den Markt und die Felder kommen. Um möglichst hohen Schutz zu gewährleisten und Schäden für Umwelt und Gesundheit auszuschließen, muss jedes Pestizid einzeln zugelassen werden.

Doch wer ein solches Produkt in Deutschland verkaufen will, kann die Zulassung über andere EU-Staaten beantragen. Dort werden Auswirkungen auf Mensch und Umwelt Experten zufolge teils aber deutlich weniger streng geprüft.

Immer wieder hat das Verwaltungsgericht Braunschweig entschieden, dass das in Deutschland nun mal so anerkannt werden müsse. Das wollen deutsche Behörden nicht länger hinnehmen: Sie haben in Karlsruhe am Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde eingereicht - ein für die Bundesrepublik Deutschland ungewöhnlicher Weg.

Wie ist die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln generell geregelt?

In zwei Stufen: Die Europäische Kommission entscheidet, ob ein Wirkstoff für ein Pflanzenschutzmittel genehmigt wird. Ein Beispiel dafür ist Glyphosat. Das Präparat selbst braucht dann eine nationale Zulassung, um in einem Land verkauft und genutzt werden zu dürfen.

Wie läuft die Zulassung ab?

Die EU ist dafür in drei Zonen aufgeteilt, innerhalb derer die ökologischen und landwirtschaftlichen Bedingungen als annähernd vergleichbar gelten. So ist Deutschland in einer Zone unter anderem mit Polen, den Niederlanden und Österreich. Nach der EU-Pflanzenschutzverordnung können Hersteller einen Mitgliedstaat wählen, in dem sie eine Zulassung beantragen (Referenzmitgliedstaat). Alle Mitgliedstaaten der gleichen Zone müssen die Zulassung dann grundsätzlich anerkennen. Das wird gegenseitige Anerkennung genannt. Wie weit dieses Prinzip geht, ist jedoch umstritten.

Hat der anerkennende Staat dann in seinem Hoheitsgebiet kein Mitspracherecht mehr?

«Nein, meint das Verwaltungsgericht Braunschweig - jedenfalls nicht, soweit der Referenzmitgliedstaat die Gesundheits- und Umweltrisiken des Produktes bereits bewertet hat oder hätte müssen - und hebt unsere abweichenden Zulassungsentscheidungen damit immer wieder auf», erklärt Kim Teppe, Juristin beim Umweltbundesamt (Uba). Der Mitgliedstaat könnte nur noch geltend machen, dass das Produkt wegen spezieller ökologischer oder landwirtschaftlicher Bedingungen in dem Land «ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt», wie es in der Verordnung heißt.

Als Beispiel wird in der Verfassungsbeschwerde, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, der Weinbau genannt. Er spiele in Deutschland eine größere Rolle als in anderen Ländern derselben Zone. Der Staat kann dann Vorgaben für die Anwendung machen oder - theoretisch - eine Zulassung verweigern.

Welche Behörden sind in Deutschland zuständig?

Federführend für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ist das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) mit Sitz in Braunschweig, weshalb Streitigkeiten im ersten Schritt vor dem dortigen Verwaltungsgericht ausgetragen werden. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), das Julius Kühn-Institut (JKI) und das Uba sind als wissenschaftliche Bewertungsbehörden beteiligt. Diese prüfen im Jahr rund 200 Zulassungsanträge, wie Jörn Wogram sagt, der das Fachgebiet Pflanzenschutzmittel im Uba leitet.

Mehr als die Hälfte der Anträge in Deutschland seien inzwischen solche auf Anerkennung einer Zulassung eines anderen Staates. Das Uba stimme meist zu, manchmal erlasse es weiterreichende Anwendungsbestimmungen. Doch nur selten lege es ein echtes Veto ein.

Welche Folgen hat es, wenn das vor Gericht keine Rolle spielt?

In Deutschland müssen im Endeffekt immer wieder Pestizide erlaubt werden, obwohl die zuständigen Fachbehörden dagegen sind. In der Beschwerdeschrift heißt es, derzeit könnten die Behörden bei 87,5 Prozent aller Zulassungen in Deutschland nicht eigenständig entscheiden. Deren Arbeit und Expertise werden zur Farce. «Wir machen uns unglaubwürdig», sagt beispielsweise der Jurist Felix Ortgies vom BfR. «Das widerspricht unserem wissenschaftlichen Ethos und konterkariert unseren gesetzlichen Auftrag.»

Warum wählen Hersteller diesen Weg?

Nach den Worten von Volker Kaus, Jurist beim Industrieverband Agrar, scheren die deutschen Behörden bei der Bewertung häufiger aus und legen höhere Maßstäbe an als etwa Leitlinien der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) vorschreiben. «Das widerspricht den Grundsätzen der Harmonisierung und des gegenseitigen Vertrauens innerhalb der EU.» Welcher Stand von Wissenschaft und Technik als Grundlage dient, auf der Pflanzenschutzmittel geprüft und zugelassen werden, müsse immer wieder diskutiert werden. Aber dann müssten einheitliche Standards gelten, hier dürfe nicht ein Land vorpreschen.

«Deutschland hat hohe Schutzstandards», sagt Wogram vom Uba. Deswegen wählten Firmen immer seltener Deutschland als Referenzmitgliedstaat. In der Verfassungsbeschwerde heißt es dazu deutlich, dass privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen Mitgliedstaaten bei der Zulassung gezielt niedrigere Schutzstandards ausnutzten.

Laut Mathias Uteß vom BVL gibt es zwar auch Fälle, in denen andere Staaten ein in Deutschland zugelassenes Pestizid nicht genehmigen wollen. In der Mehrheit der Fälle sei es aber umgekehrt.

Was ist nun neu?

Das BVL ist in einem Verfahren eine Instanz weitergegangen, vor das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG). Dieses gab dem Bundesamt mit Verweis auf das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens innerhalb der Union weder Recht noch ließ es Fragen zur Reichweite von Prüfungsbefugnissen im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung grundsätzlich durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) klären.

Da es um eine EU-weite Regelung geht, gehören diese Fragen aus Sicht der Behörden aber genau dort hin. «Letztlich lassen sich diese Zulassungsfragen nicht allein in Deutschland entscheiden», sagt Ortgies. «Wir wollen an dieser Stelle keine Rechtsunklarheit, sondern sauber nachvollziehbare und wissenschaftlich haltbare Entscheidungen treffen – alles andere ist nicht vertretbar.»

Und genau darum dreht sich die Verfassungsbeschwerde: Das BVL will von Karlsruhe, dass die vorherige Entscheidung des OVG aufgehoben und festgestellt wird, dass der EuGH in einem neuen Durchgang angerufen werden muss. Dort müsste dann geklärt werden, wie weit der nationale Spielraum reicht, sagt Uteß vom BVL. Wann das höchste deutsche Gericht über die Verfassungsbeschwerde entscheidet, ist unklar.

Worum geht es konkret?

Um das Mittel «Gold 450 EC». Darin enthalten ist ein Wirkstoff, der nicht mehr zugelassen ist. Insbesondere Fische, Algen und wirbellose Wasserbewohner sind aus Sicht der Fachleute gefährdet. Polen ließ das Pestizid dennoch zu, da die dortigen Experten das Risiko anders bewertet hatten. Für Uteß wurde damit «eine Grenze überschritten». Der Anbieter selbst wollte sich zum laufenden Verfahren nicht äußern.

Müsste sich etwas an dem Prozedere ändern?

Die Standards in den Ländern müssten aus Sicht von Uteß abgeglichen werden, auch um gleiche Bedingungen für Landwirte zu schaffen. «Wir brauchen mehr Harmonisierung.» Dafür sei nicht zwingend eine Änderung der Verordnung nötig. Das sei auch über die EFSA-Leitlinien möglich. Der Prozess sei gewinnbringend, aber langwierig.

Was könnte dem Verfassungsgericht zuvorkommen?

Dem EuGH liegt schon ein ähnlicher Fall aus den Niederlanden vor. Die Generalanwältin hat in ihren Schlussanträgen aus dem September 2023 vorgeschlagen, dass ein Staat bei der Prüfung eines Antrags auf Zulassung alle einschlägigen und zuverlässigen aktuellen - also neuesten - wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse berücksichtigen sollte. Geschieht dies nicht, dürften andere Staaten die Zulassung verweigern. Wann der EuGH entscheidet, ist unklar. In der Regel folgt er aber Vorschlägen der Generalanwältin.

@ dpa.de