Deutschland, Migration

Es ist ein Experiment: Der Kanzler, die Länder und der Oppositionsführer suchen eine gemeinsame Linie bei einem Thema, das die Republik bewegt wie kaum ein anderes - und der Rechten Auftrieb gibt.

14.10.2023 - 01:13:04

Bund und Länder wollen im November Migrations-Pakt schmieden

  • Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil. Die Ministerpräsidenten haben sich auf eine Beschleunigung von Asylverfahren geeinigt. - Foto: Julian Stratenschulte/dpa

    Julian Stratenschulte/dpa

  • Hessens Regierungschef Boris Rhein (CDU), zugleich Sprecher der Ministerpräsidentenkonferenz, auf dem Weg ins Kanzleramt. - Foto: Britta Pedersen/dpa

    Britta Pedersen/dpa

Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil. Die Ministerpräsidenten haben sich auf eine Beschleunigung von Asylverfahren geeinigt. - Foto: Julian Stratenschulte/dpaHessens Regierungschef Boris Rhein (CDU), zugleich Sprecher der Ministerpräsidentenkonferenz, auf dem Weg ins Kanzleramt. - Foto: Britta Pedersen/dpa

Bund und Länder wollen bis Anfang November zu gemeinsamen Lösungen kommen, um den Zuzug Hunderttausender Flüchtlinge nach Deutschland in den Griff zu bekommen. Bundeskanzler Olaf Scholz und die Ministerpräsidenten Boris Rhein (Hessen, CDU) und Stephan Weil (Niedersachsen, SPD) loteten gestern Abend mit CDU-Chef Friedrich Merz als Oppositionsführer im Bundestag erstmals gemeinsam die Einigungsmöglichkeiten aus. Alle Seiten nannten die etwa zweistündigen Beratungen anschließend konstruktiv - auch wenn es keine konkreten Ergebnisse gab.

Bund, Länder und Opposition «auf einem gemeinsamen Weg»

«Ich finde, es kommt jetzt darauf an, dass Tempo stattfindet bei den Lösungen der Fragen», sagte Rhein als neuer Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz. Er sei für ein Migrations-Paket «aus einem Guss». Aus dem Kanzleramt hieß es, man sei sich einig, «dass Demokraten zusammenhalten und Demokratie verteidigen müssen». Bund, Länder und Opposition hätten sich «auf einen gemeinsamen Weg begeben».

Merz lobte im ZDF-«heute journal» die «gute Atmosphäre» des Gesprächs: «Wir sind uns im Ziel einig, und ob wir uns auf dem Weg einig werden, das werden die nächsten Tage und Wochen zeigen.»

Gemeindebund zweifelt an schnellerem Asylverfahren

Der Städte- und Gemeindetag hat die Bemühungen der Politik um eine andere Migrationspolitik grundsätzlich begrüßt, stellt einzelne der von den Ländern vorgeschlagenen Maßnahmen aber in Frage. So bezweifelte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg im Deutschlandfunk, dass die Asylverfahren wirklich auf drei Monate verkürzt werden können und die Umstellung der Leistungen auf eine Bezahlkarte zur Begrenzung der Zuwanderung beiträgt.

Zugleich bedauerte er, dass die Ministerpräsidenten sich nicht für eine Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten ausgesprochen haben. Bei deren Staatsangehörigen gibt es ein vereinfachtes Asylverfahren. Landsberg forderte, die nordafrikanischen Maghrebstaaten und Indien entsprechend einzustufen.

Grundsätzlich lobte er aber die Bemühungen von Bund und Ländern: «Es ist gut, dass jetzt Bewegung in die Migrationspolitik kommt. Das war sicher den Ergebnissen der Landtagswahlen, aber auch der erkennbaren Überforderung der Kommunen geschuldet.»

SPD-Chef: Beim Migrationspakt keine Spiele spielen

Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat die Union zu einer konstruktiven Mitarbeit an einer Lösung des Migrationsproblems aufgefordert. «Wir strecken die Hand aus. Da dürfen jetzt keine Spiele gespielt werden. Wir tragen gemeinsam Verantwortung für dieses Land», sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

Die CDU-Ministerpräsidenten von Hessen und Schleswig-Holstein, Boris Rhein und Daniel Günther, würden den scharfen Kurs von CDU-Chef Friedrich Merz aber nicht mittragen. «Daher bin ich zuversichtlich, dass wir auch mit den unionsgeführten Ländern Lösungen finden.»

Einladung erfolgte nach dem Rechtsruck in Hessen und Bayern

Scholz hatte nach den Landtagswahlen in Hessen und Bayern zu dem Treffen eingeladen. Dabei hatten alle Ampel-Parteien teils dramatische Verluste eingefahren, während die AfD deutlich gewann und in Bayern auf Platz drei, in Hessen sogar auf Platz zwei landete. Der Rechtsruck wurde zu einem großen Teil auf die Unzufriedenheit mit der Migrationspolitik zurückgeführt. Zwischen Anfang Januar und Ende September haben in Deutschland 233.744 Menschen erstmals einen Asylantrag gestellt, rund 73 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.

Scholz hat kurz vor den Wahlen erstmals ausgesprochen, dass aus seiner Sicht zu viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Schon davor hatte er den Ländern und der «demokratischen Opposition» einen «Deutschland-Pakt» angeboten, um Reformen in Deutschland voranzubringen. Er meinte damit aber nicht nur die Eindämmung der irregulären Migration, sondern auch andere Themen wie den Bürokratieabbau.

Vorsichtiger Annäherungsversuch beim Abendessen

Das Gespräch gestern konzentrierte sich aber ganz auf die Migration. Neben Scholz, Rhein, Weil und Merz war noch Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) bei dem Abendessen in der Kanzlerwohnung im achten Stock der Regierungszentrale dabei. «Zunächst einmal haben wir uns heute Abend gut vertragen», beschrieb Weil anschließend die Atmosphäre. «Und wir sind, glaube ich, auch in der Sache so eng beieinander, dass daraus etwas werden kann.»

Alle Seiten waren sich einig, dass das Treffen nur eine erste Etappe auf dem Weg zu einem Treffen des Kanzlers mit allen Ministerpräsidenten in Berlin am 6. November sein kann. Dann soll es allerdings zum Schwur kommen. Es gilt dann, die schwierigste Frage zu klären: Die Finanzierung der Aufnahme von Flüchtlingen, für die die Länder zusätzliche Milliarden vom Bund fordern. Aber auch andere Fragen sollen bis dann geklärt werden. Am 6. November werde man «die Dinge finalisieren ... inklusive Finanzen», sagte Rhein.

Alle Seiten haben die Karten auf den Tisch gelegt

Für die weiteren Beratungen haben Bund, Länder und die Union nun ihre Karten auf den Tisch gelegt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte bereits am Mittwoch die Grundzüge eines Gesetzentwurfs vorgestellt, der darauf abzielt, die Zahl von Abschiebungen, die im letzten Moment scheitern, zu reduzieren. Außerdem sollen die Ausländerbehörden durch verlängerte Fristen entlastet werden.

Die Länder einigten sich gestern unmittelbar vor der Runde im Kanzleramt auf einen Forderungskatalog, der sich an den Bund richtet. Darin verlangen sie, effektive Maßnahmen zur Beschleunigung der Asylverfahren zu ergreifen, unerlaubte Einreisen etwa durch stationäre Grenzkontrollen an den Grenzen zu Tschechien und Polen zu unterbinden und die Voraussetzungen zur Einführung einer bundesweit einheitlichen Bezahlkarte für Asylbewerber zu schaffen. «Die bislang getroffenen Maßnahmen sind noch nicht ausreichend, um eine Begrenzung der irregulären Migration zu erreichen», heißt es in dem gemeinsamen Beschluss.

Nach der Runde im Kanzleramt legte dann auch die Union einen Forderungskatalog mit 26 Punkten vor. Darin wird von Scholz unter anderem ein «gemeinsames Verständnis» verlangt, «dass Deutschland mit Blick auf die Integration-Infrastruktur und den gesellschaftlichen Zusammenhalt eine Asylzuwanderung bis maximal 200.000 Personen pro Jahr verträgt». Vor diesem Hintergrund müsse es eine Regierungserklärung des Kanzlers geben mit dem Signal: «Deutschlands Aufnahmekapazitäten sind erschöpft».

@ dpa.de