Aktienmärkte, Anleger

Wo bleibt denn da die Moral?

Sehr verehrte Leserinnen und Leser,

zu meinem Artikel der Vorwoche über die neue Qualität der Dienstmädchenhausse erhielt ich eine Mail eines Lesers, der den GameStop-Hype aus einer ganz anderen Perspektive sieht. Für ihn sind die Shortseller, denen dabei eins ausgewischt wurde, die Bösewichte, die schlimmstenfalls „Firmen in den Ruin treiben können“. So etwas gehöre sich nicht, so der Leser weiter und fragt: „Wo bleibt da die Moral?!“

Moral und Börse

Nun ist es mit der Moral an der Börse, in der Finanzbranche und in der Wirtschaft so eine Sache. An der Börse werden Aktien von Erotikportalen, Spielcasinos, Tabakkonzernen, Waffenherstellern und Ölmultis gehandelt. Selbst, wenn diese blitzsaubere Bilanzen haben und sich bei ihren Geschäften moralisch einwandfrei verhalten (nach welchen Maßstäben auch immer), sehen viele Investoren inzwischen deren Geschäftsmodelle insgesamt als „unmoralisch“ an – und verbannen diese Aktien aus ihren Depots.

Dennoch steht es uns frei, solche Aktien zu kaufen. Die Banken und Broker wickeln diese Transaktionen problemlos für uns ab. Aber wo bleibt denn da die Moral?

Die Finanzbranche hat in der Immobilienkrise bis kurz vor ihrem eigenen Beinahe-Untergang in großem Stil Wertpapiere vertickt, von denen sie wusste, dass sie Schrott sind. Das Einzige, was der damalige Chef der Citigroup, Chuck Prince, zur Rechtfertigung vorbrachte war: „Solange die Musik spielt, muss man aufstehen und tanzen.“ Wo bleibt denn da die Moral?

Die Fälle Wirecard und General Electric

In „der Wirtschaft“ läuft es kaum besser. Ich könnte den Wirecard-Fall bemühen, aber das wäre zu einfach. Viel besser geeignet – weil er uns wieder zum Thema „Shortseller“ zurückführt – ist der Fall General Electric (GE).

Bei diesem "honorigen" Weltkonzern gab es bereits in der Amtszeit des legendären – und inzwischen verstorbenen - Chefs Jack Welch die ersten Bilanzmanipulationen. Welch führte GE von 1981 bis 2001, also 20 Jahre lang. Erst weitere 17 Jahre später, also 2018, wagten es ein, zwei Analysten Zweifel an den GE-Bilanzen zu äußern und die offensichtlichsten Tricksereien öffentlich zu machen – nachdem sie jahrelang die (undurchsichtigen) Bilanzen durchforstet haben.

Mehr als 30 Jahre lang konnte also der Konzern ungestört Aktionäre, Mitarbeiter und Öffentlichkeit hinters Licht führen! Als die Manipulationen aufflogen, verloren unzählige Leute bei GE ihre Jobs, Ruheständler ihre Altersvorsorge und manche Anleger ein kleines Vermögen (der Kurs brach daraufhin um bis zu 80 % ein). Im Oktober 2020 kündigte die US-Börsenaufsicht zivilrechtliche Schritte gegen GE an. Wo bleibt denn da die Moral?

Achtung, Polemik!

Und wo bleiben die kritischen Fragensteller? Aktuell beobachten in den USA laut dem Datenanbieter Refinitiv mindestens 12 Analysten das Unternehmen GE und seine Aktie. Als der Konzern noch Mitglied im Dow Jones Index und das Leitbild für Managergenerationen war, gab es bestimmt noch mehr. Wie konnten sich diese hochbezahlten Finanzgenies all die Jahre derart an der Nase herumführen lassen? Was haben sie und all die Fondsmanager getan, um das Unheil abzuwenden, dass schließlich über ihre Anleger in Form des 80%-igen Kursverfalls hereinbrach? Und wo bleibt bei all dem denn die Moral?

Liebe Leserinnen und Leser, falls Ihnen das bisher Gesagte ungewöhnlich polemisch vorkommt oder Sie sogar irritiert – das war genau meine Absicht. Denn erst jetzt komme ich zu den Shortsellern, die der Leser als unmoralisch brandmarkt. Tatsächlich gibt es darunter etliche schwarze Schafe, die nur versuchen, mit negativen „Enthüllungen“ die Kurse in die von ihnen gewünschte Richtung zu treiben. Das wird zu Recht als Marktmanipulation verurteilt. Aber dazu später mehr.

Doch nach dem bisher Gesagten dürfte klar sein, dass die Frage nach der Moral – wenn überhaupt – viel eher gestellt werden muss. Und nicht erst dann, wenn die Shortseller in Aktion treten und Fälle, wie den von GE, versuchen, für sich zu nutzen. Denn in einer idealen Börsen-, Finanz- und Wirtschaftswelt hätten Shortseller keine Chance.

In einer idealen Welt

In einer idealen Welt macht jeder Anleger vor einem Investment seine Hausaufgaben und durchleuchtet ein Unternehmen und dessen Bilanz von vorne bis hinten. Eventuelle Zweifel klärt er mit den Verantwortlichen dort, und falls diese Zweifel nicht ausgeräumt werden können, lässt er die Finger von dieser Aktie.

Aber Hand aufs Herz: Von diesem Ideal sind wir weit entfernt. Viele Privatanleger betreiben überhaupt keine Unternehmensanalyse, sondern verlassen sich auf die Profis. Oft haben Privatanleger auch weder die Zeit noch das Wissen dafür. Sie vertrauen also darauf, dass andere (Analysten, Fondsmanager) ihren Job richtig erledigen Und wenn die investieren bzw. nichts Negatives berichten, dann sehen sie auch keinen Grund für Zweifel.

Und in einer idealen Welt würden Analysten und Fondsmanager auch genau das tun! Allerdings hätten sie nicht allzu viel Arbeit damit, denn in dieser idealen Welt würden die Unternehmen selbst diese Arbeit erledigen: Sie legten Bilanzen vor, die so klar wie Wasser sind und keine Fragen, geschweige denn Zweifel aufkommen lassen. Und falls doch einmal eine Nachfrage nötig wäre, würden die Unternehmen alle relevanten Informationen liefern, um jeden Zweifel sofort auszuräumen.

Shortseller als Korrektiv für die Märkte

Doch genug geträumt. In einer solch idealen Welt leben wir nicht, und es wird sie wohl auch nie geben. Wir müssen also mit den Unzulänglichkeiten und Nachlässigkeiten oder gar Manipulationen leben. Und als Anleger hoffen wir jeden Tag, dass uns das Schicksal erspart bleibt, ihr Opfer zu werden.

Aber erst solche Unzulänglichkeiten der Märkte (zu denen auch wir gehören) geben den Shortsellern überhaupt die Chance, mit ihren Aktionen Erfolg zu haben und Geld zu verdienen - weil sie nämlich Dinge aufdecken, die andere nicht erkannt haben bzw. nicht erkennen oder nicht wahrhaben wollten. Insofern sind Shortseller also ein wichtiges Korrektiv für die Märkte.

Doch es gibt eben diese Grauzone, in der die schwarzen Schafe der Zunft operieren. Diese Grauzone entsteht jedoch nur dadurch, dass die fraglichen Unternehmensbilanzen tatsächlich nebulös sind oder zweifelhafte Vorgänge zeigen. Egal, ob Aurelius, Grenke, Ströer, Wirecard oder andere – alle diese Unternehmen hatten irgendwelche Ungereimtheiten in ihren Bilanzen.

Die meisten Shortseller legten „nur“ die Finger auf diese Wunden. Und wenn nun alle Anleger ihre Hausaufgaben gemacht hätten (siehe oben), dann hätten sie sofort wissen müssen, ob an den Vorwürfen etwas dran ist oder nicht. Im Idealfall wäre dann die Attacke ins Leere gelaufen.

Sie haben leichtes Spiel – weil wir zu bequem sind

Die Shortseller nutzen also nur unser aller Nachlässigkeit, Ahnungslosigkeit und Bequemlichkeit, aber vor allem unsere Gier und unsere Angst aus – und haben leichtes Spiel dabei. Sonst könnten die Anleger gar nicht in Panik verfallen, dass an den Vorwürfen doch etwas dran sein könnte. Und nur die Ungereimtheiten der Bilanz erlauben es den Shortsellern überhaupt erst, solche Nebelkerzen steigen zu lassen. Und dann machen es die Unternehmen oft auch noch schlimmer, indem sie sogar in der kritischen Phase des Shortseller-Angriffes die Vorwürfe nur zögerlich aufklären.

Und diese Nachlässigkeiten führen auch dazu, dass selbst unsaubere Shortseller-Attacken nur selten Konsequenzen für deren Protagonisten haben. Die Behörden, die über solche Marktmanipulationen urteilen müssen, stehen schließlich vor demselben Dilemma: Auch sie können ad hoc nicht zweifelsfrei entscheiden, ob die Shortseller nur bluffen oder aber doch (ein wenig) Recht haben. Daher kommt es oft zu halbherzigen Entscheidungen, bei denen die Shortseller eine kleine Strafe zahlen, die gegenüber den Gewinnen, die sie mit ihrer Aktion eingefahren haben, lächerlich sind.

Doch diese lächerlichen Strafen und vermeintliche unberechtigte Attacken der Shortseller bleiben den Menschen in Erinnerung. Schnell kocht dann die Empörung hoch, und es wird ein Verbot von Leerverkäufen gefordert. Doch ein Verbot von Leerverkäufen würde nur die genannten Unzulänglichkeiten zementieren. Das gelegentliche Korrektiv – die Shortseller – würde dagegen abgeschafft.

Wollen wir das wirklich?

Auch wenn dieses Korrektiv etliche Mängel hat – möchten wir wirklich wieder über 30 Jahre warten, bis zufällig mal ein Bilanzskandal aufgeklärt wird? Oder wollen wir es erneut darauf ankommen lassen, dass ein DAX-Konzern innerhalb eines halben Jahres pleitegeht, weil keiner so genau hingeschaut hat?

Aber zum Glück sind das die absoluten Ausnahmen. Die Mehrheit der Unternehmen bemüht sich nach Kräften, schlüssige Bilanzen vorzulegen und verbleibende Fragen schnell und umfassend zu beantworten. Daher sind Shortseller-Attacken nur ein sehr kleiner Teil eines insgesamt immer noch funktionalen Marktes. Und unseriöse Shortseller-Attacken sind noch seltener.

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir persönlich davon betroffen sind, ist daher auch minimal. Nehmen Sie mich als Beispiel: Ich habe seit Anfang dieses Jahrhunderts ca. 3.000 Transaktionen in Aktien und Aktienderivaten durchgeführt. In diesen gut 21 Jahren bin ich selbst nur einmal in eine Shortseller-Attacke geraten. Das ergibt rein rechnerisch eine Wahrscheinlichkeit von 0,03 %. Wer ein Mindestmaß an Risikomanagement betreibt, sollte dieses Risiko (das neben den vielen anderen Risiken kaum ins Gewicht fällt) schulterzuckend abhaken können.

Sind sie nun gut oder böse? Entscheiden Sie!

Ach ja, bleibt noch die Frage, ob die Shortseller nur heiße Luft produzieren oder ob tatsächlich etwas dran ist an den Sachen, die sie behaupten. Sind sie also böse oder gut?

Ich habe oben (außer Wirecard) drei Firmen genannt, die mir aus den letzten Jahren durch Shortseller-Attacken in Erinnerung geblieben sind. Das auch deswegen, weil die mediale Empörung über die bösen „Shorties“ ähnlich wie bei dem eingangs erwähnten Leser groß war.

Ich habe die Vorwürfe nie im Detail geprüft, weiß nicht einmal mehr, worum es dabei ging. Ich habe mir nur für diesen Artikel die Charts der betreffenden Unternehmen angesehen, die ich Ihnen nachfolgend kommentarlos beifüge. Und nun raten Sie mal, bei welchen Unternehmen ich argwöhne, dass an den Vorwürfen den Shortseller tatsächlich etwas dran sein könnte.

Short-Attacken und ihre Folgen

Vielleicht sollten wir doch nicht so überheblich gegenüber den Shortsellern sein. Wo bliebe denn sonst die Moral?

Mit besten Grüßen

Ihr Torsten Ewert

 (Quelle: www.stockstreet.de)

@ ad-hoc-news.de | 09.02.21 09:35 Uhr