Türkei, Wahlen

Migration und Wirtschaft bestimmten den Wahlkampf vor der Stichwahl in der Türkei.

28.05.2023 - 05:23:52

Türkei entscheidet in Stichwahl über Präsidenten. Vor allem der Oppositionsführer fällt mit flüchtlingsfeindlicher Rhetorik auf. Favorit ist er diesmal aber nicht.

Die Stichwahl um das Präsidentenamt in der Türkei hat begonnen. Seit 8.00 Uhr Ortszeit (7.00 Uhr MESZ) können Bürger ihre Stimme entweder dem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan oder seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu geben. Die Wahllokale haben bis zum Nachmittag (16.00 Uhr MESZ) geöffnet. Vorläufige Ergebnisse werden am Abend erwartet.

Weil es nur eine Abstimmung mit zwei Kandidaten sei, werde die Auszählung voraussichtlich schneller gehen, erklärte der Leiter der türkischen Wahlbehörde, Ahmet Yener. Eine Zeit nannte er nicht.

Der 69-jährige Erdogan geht als Favorit in die Abstimmung. Er hatte bei der ersten Runde der Wahl vor zwei Wochen zwar die meisten Stimmen erhalten, verpasste aber die nötige absolute Mehrheit. Kilicdaroglu landete etwa 4,5 Prozentpunkte hinter Erdogan.

Das Ergebnis beim ersten Wahlgang überraschte viele: Umfragen hatten zwar eine Stichwahl vorausgesagt, der 74-jährige Kilicdaroglu galt aber als Favorit. Zwischen Erdogan und seinem Gegner liegen rund 2,5 Millionen Stimmen, die die Opposition nun aufholen will.

Rund 61 Millionen Menschen sind in der Türkei zur Wahl aufgerufen. Wahlberechtigte in Deutschland hatten bereits abgestimmt. Dort waren rund 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass zur Wahl aufgerufen. Wie bereits 2018 stimmten diejenigen, die ihr Wahlrecht in Deutschland nutzten, mehrheitlich für Erdogan.

Kandidaten geben Stimme ab

Kilicdaroglu wählte in einer Schule in der Hauptstadt Ankara, Erdogan in der Metropole Istanbul. Kilicdaroglu sagte: «Ich lade alle Bürger dazu ein, an die Urne zu gehen, um die Unterdrückung und die autoritäre Führung abzuschaffen und diesem Land echte Freiheit und Demokratie zu bringen.» Er rief seine Anhänger zudem dazu auf, die Wahlurnen zu schützen, «denn diese Wahl findet unter sehr schweren Bedingungen statt.» Die Opposition sei etwa diffamiert worden.

Erdogan sagte bei seiner Stimmabgabe in Istanbul, dass es sich um die erste Stichwahl in der Geschichte der Türkei handele. Er lobte die hohe Wahlbeteiligung in der ersten Runde am 14. Mai und sagte, er rechne erneut mit einer hohen Teilnahme.

Angriffe auf Wahlbeobachter

Berichten zufolge gab es Angriffe auf Wahlbeobachter in Istanbul und im Südosten des Landes. Ali Seker, Abgeordneter der größten Oppositonspartei CHP, sagte im oppositionellen Sender Halk TV, er und Wahlhelfer der Opposition seien von einer Gruppe angegriffen worden, nachdem sie Unregelmäßigkeiten beanstandet hätten. Der Vorfall habe sich in einem Dorf in der südosttürkischen Provinz Sanliurfa ereignet.

Zuvor hatte der CHP-Fraktionsvorsitzende Özgür Özel bereits auf Twitter geschrieben, dass Wahlbeobachter geschlagen und ihre Telefone kaputt gemacht wurden. Özel kritisierte zudem, dass nicht genügend Sicherheitskräfte vor Ort seien und forderte die Behörden auf, für die Sicherheit der Wahl zu sorgen.

Auch in Istanbul gab es Medienberichten zufolge mehrere Vorfälle. Halk TV berichtete, dass in den Bezirken Gaziosmanpasa und Ümraniye Wahlhelfer der Opposition angegriffen worden seien. Das Online-Medium senika.org schrieb, dass an einer Schule im Bezirk Bagcilar Anwälte nicht in die Wahllokale gelassen wurden. Dabei sei es zu Auseinandersetzungen gekommen. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.

Erdogan hat so viel Macht wie nie zuvor

Die Wahl gilt als richtungsweisend. Erdogan ist seit 20 Jahren an der Macht. Seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 hat er so viel Macht wie nie zuvor. Kritiker befürchten, dass das Land mit rund 85 Millionen Einwohnern vollends in die Autokratie abgleiten könnte, sollte er erneut gewinnen. Kilicdaroglu tritt für eine Allianz aus sechs Parteien unterschiedlicher Lager an und verspricht, das Land zu demokratisieren. International wird die Abstimmung in dem Nato-Land aufmerksam beobachtet.

Die erste Wahlrunde galt als grundsätzlich frei aber unfair. Internationale Wahlbeobachter bemängelten etwa die Medienübermacht der Regierung und mangelnde Transparenz bei der Abstimmung. Die Wahlbehörde YSK gilt zudem als politisiert.

Die Abstimmung fällt auf ein für die Opposition symbolisches Datum: Am Sonntag jähren sich auch die regierungskritischen Gezi-Proteste zum zehnten Mal. Die Demonstrationen im Frühjahr 2013 hatten sich zunächst gegen die Bebauung des zentralen Istanbuler Gezi-Parks gerichtet. Sie weiteten sich zu landesweiten Demonstrationen gegen die immer autoritärere Politik Erdogans aus, der damals noch Ministerpräsident war. Dieser ließ die weitestgehend friedlichen Proteste brutal niederschlagen.

Kilicdaroglu verschärft seinen Ton beim Thema Migration

Bestimmendes Thema vor der zweiten Runde war das Thema Migration. Sowohl Erdogan als auch Kilicdaroglu sicherten sich die Unterstützung von rechtsnationalen Politikern. Vor allem Kilicdaroglu machte die Rückführung von Flüchtlingen nach Syrien zu seinem Hauptwahlkampfthema und verschärfte seinen Ton gegenüber der ersten Runde deutlich.

Die Türkei beherbergt rund 3,4 Millionen Flüchtlinge alleine aus Syrien. Für Europa spielt sie in der Migrationspolitik eine große Rolle. Weiteres Thema im Wahlkampf war die schlechte wirtschaftliche Lage mit einer massiven Inflation. Erdogan beschimpfte die Opposition immer wieder als «Terroristen».

Im Parlament konnte sich Erdogans Regierungsbündnis bereits bei den Wahlen vor zwei Wochen erneut die absolute Mehrheit sichern. Sollte Kilicdaroglu am Sonntag gewinnen, könnte er die für eine Abschaffung des Präsidialsystems nötige Verfassungsänderung nicht im Alleingang erreichen.

Die Wahllokale in der Türkei öffnen um 7.00 Uhr (MESZ) und schließen um 16.00 Uhr (MESZ). Erste Teilergebnisse, die zunächst wenig Aussagekraft haben, werden noch am Abend erwartet.

@ dpa.de