Bedrohung, Menschen

Im Schatten des Ukraine-Kriegs wird ein anderer Konflikt in Russlands altem Machtbereich leicht übersehen.

25.08.2023 - 10:25:13

Kein Brot, keine Medikamente: Verzweifelte Lage im Kaukasus. Zwischen Aserbaidschan und Armenien schwelt es, böse historische Erinnerungen werden wach.

Im Gebiet Berg-Karabach im Kaukasus tief im Süden der früheren Sowjetunion spitzt sich die Lage bedrohlich zu. Die Armenier und Armenierinnen in dem international nicht anerkannten Staatsgebilde fürchten, ausgehungert zu werden.

Es geht nach Schätzungen um 100.000 bis 120.000 Menschen. Seit Dezember 2022 blockiert Aserbaidschan, zu dem das Gebiet völkerrechtlich gehört, die Lebensader der Karabach-Armenier ins nahe Mutterland Armenien.

Medizinische Versorgung kaum möglich

Hielten anfangs noch angebliche aserbaidschanische Öko-Aktivisten den Warenverkehr auf, steht seit April ein regulärer Kontrollposten im sogenannten Latschin-Korridor. Seit Mitte Juni kommt humanitäre Hilfe des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) nicht mehr durch.

Zuletzt konnten auch medizinische Notfalltransporte nicht mehr passieren. Aserbaidschan will nach Angaben von Präsident Ilham Aliyev den angeblichen Schmuggel von Waffen nach Berg-Karabach unterbinden.

Und wie immer, wenn es um den uralten Konflikt zwischen den christlichen Armeniern und den übermächtigen muslimischen Nachbarn geht, wird die Erinnerung an die systematische Vertreibung und Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich ab 1915 wach.

Kollateralschaden des Krieges in der Ukraine?

Der frühere Chefankläger des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, nennt auch die jetzige Situation einen «andauernden Genozid». Hunger werde als Waffe gegen eine Ethnie eingesetzt, schrieb er in einem Gutachten für die armenische Seite.

Er appellierte an Russland, die USA und die Europäische Union, dies zu stoppen. «Deren intensive Konfrontation im Ukraine-Konflikt sollte nicht dazu führen, dass die Armenier ein Kollateralschaden werden.» Doch bislang hat Diplomatie keine Lösung gebracht.

Prekäre Situation

In der Hauptstadt Stepanakert und den anderen Orten in Berg-Karabach (armenisch: Arzach) ist das Leben äußerst beschwerlich geworden. Strom ist für einige Stunden da, dann fällt er wieder aus. Das Glasfaserkabel von Armenien nach Karabach für eine stabile Internetverbindung habe Aserbaidschan Mitte August gekappt, sagt ein Berater der Führung in Stepanakert, Artak Beglarjan.

Vor allem aber sind die Apotheken leer. Auf den Märkten gibt es kaum es etwas zu kaufen. Es fehlt an Benzin, um Obst und Gemüse aus dem Umland nach Stepanakert (aserbaidschanisch: Khankendi) zu bringen. Für Brot müssen die Menschen Schlange stehen.

Für etwa 2000 schwangere Frauen gebe es keine medizinische Betreuung, sagte der armenische Außenminister Ararat Mirsojan Mitte August im UN-Sicherheitsrat in New York. Und er berichtete von einem Mann, der ärztlichen Berichten zufolge an Unterernährung gestorben sei.

Blick zurück

Das öl- und gasreiche Aserbaidschan ist durch einen Sieg über die armenische Armee 2020 in die Position gekommen, Berg-Karabach abriegeln zu können. Vorher hatten die Armenier seit 1992 nicht nur Berg-Karabach verteidigt, sondern auch große Teile Aserbaidschans besetzt gehalten. Doch im Krieg 2020 verlor Berg-Karabach, einst etwa 4400 Quadratkilometer groß, zwei Drittel seines Territoriums. Aliyevs Truppen rückten bis an die Grenze des Mutterlandes Armenien vor.

Die Schutzmacht Russland stand Armenien nicht militärisch bei. Sie setzte durch, dass russische Truppen den Waffenstillstand überwachen. Zu den übernommenen Pflichten gehört eigentlich auch, bis 2025 den Transportweg über die Gebirgsstraße von Latschin offen zu halten. «Putin, halte Wort!», steht deshalb auf Plakaten bei Protestaktionen in Stepanakert. Doch das Russland von Präsident Wladimir Putin hat durch den Krieg gegen die Ukraine an Einfluss verloren.

Aserbaidschans Botschafter bei den Vereinten Nationen, Yashar Aliyev, sagte dem Sicherheitsrat: «Aserbaidschan verfolgt die Politik, die ethnischen Armenier der Karabach-Region als gleichberechtigte Bürger zu integrieren.» Doch die glauben nicht an Gleichberechtigung in dem repressiv geführten Land.

Die Karabach-Führung um Republikchef Araik Harutjunjan will auch die Straße in die aserbaidschanische Stadt Agdam nicht öffnen. Das Gebiet könne leicht von dort versorgt werden, schlägt Baku vor. Karabach blockiere sich selbst.

Die Armenier haben über die vergangenen Jahrzehnte keinen Unterschied gemacht zwischen ihrem Staat und dem armenischen Siedlungsgebiet auf dem Territorium Aserbaidschans. Erst bei Verhandlungen unter Ägide der EU bekannte sich der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan zu den Grenzen des Nachbarlandes - einschließlich Berg-Karabach.

Die Gebiete

«Armeniens Territorium umfasst 29.800 Quadratkilometer, das von Aserbaidschan 86.600 Quadratkilometer», stellte EU-Ratspräsident Charles Michel nach einem Treffen mit Paschinjan und Aliyev im Juli klar. Die Genauigkeit ist wichtig zur Abwehr gegenseitiger Ansprüche.

Aserbaidschan macht zunehmend Druck auch auf Gebiete im Südosten Armeniens, um einen Korridor zu seiner Exklave Nachitschewan zu schaffen. Diese liegt zwischen Armenien und der Türkei.

Paschinjans Zugeständnis - für die EU eine Voraussetzung für einen Friedensvertrag - stößt aber in seiner Heimat auch auf Kritik. Er habe damit ein Druckmittel aus der Hand gegeben, sagte die ehemalige armenische Botschafterin in den Niederlanden, Dsjunik Agadschanjan.

«Der Latschin-Korridor ist die Nabelschnur, die Arzach mit Armenien verbindet», sagte sie. «Wenn man sie durchschneidet, beginnt die Liquidierung Armeniens.» Sie befürchtet, dass der Konflikt einen weiteren Krieg im Südkaukasus auslösen könnte.

@ dpa.de