UN-Palästinenserhilfswerk, Tragödie

Erstmals seit Beginn des Gaza-Kriegs besucht der Generalkommissar des UN-Palästinenserhilfswerks den abgeriegelten Küstenstreifen.

02.11.2023 - 05:14:10

UN-Palästinenserhilfswerk: «Tragödie ist beispiellos». Er beklagt die katastrophale Lage und fordert mehr Hilfe. Der Überblick.

Angesichts zahlreicher ziviler Opfer und der angespannten Versorgungslage während der israelischen Angriffe auf Stellungen der islamistischen Hamas im Gazastreifen hat das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA erneut eine Feuerpause gefordert.

«Eine humanitäre Feuerpause ist längst überfällig», sagte UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini nach seinem ersten Besuch im Gazastreifen seit Kriegsbeginn. «Ohne sie werden noch mehr Menschen getötet, die Lebenden werden weitere Verluste erleiden, und die einst pulsierende Gesellschaft wird für immer in Trauer versinken.»

Er habe eine von der UNRWA betriebene Schule in Rafah nahe der Grenze zu Ägypten besucht. «Das Ausmaß der Tragödie ist beispiellos», sagte Lazzarini. Kinder hätten ihn um einem Schluck Wasser und ein Stück Brot gebeten. Die Not und die unhygienischen Lebensbedingungen seinen jenseits der Vorstellungskraft.

«Das war einer der traurigsten Tage in meiner Arbeit in der humanitären Hilfe», sagte Lazzarini. Die derzeitige humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen sei bei weitem nicht genug. «Ich fordere erneut dringende Treibstofflieferungen. Seit fast einem Monat ist kein Treibstoff mehr gekommen und das hat verheerende Auswirkungen auf Krankenhäuser, Bäckereien und Wasserwerke», sagte Lazzarini.

Bei dem Terrorüberfall der islamistischen Hamas am 7. Oktober auf Israel wurden nach israelischen Militärangaben mindestens 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Mehr als 1400 Menschen starben dabei und in den folgenden Tagen. Israel hat als Reaktion den Gazastreifen abgeriegelt und massive Luft- und Bodenangriffe begonnen. Die Zahl der getöteten Palästinenser im Gazastreifen ist laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde seitdem auf 8796 gestiegen.

Heftige Kämpfe zwischen israelischen Soldaten und Hamas

Im Norden des Gazastreifens kam es in der Nacht zu heftigen Gefechten zwischen israelischen Soldaten und Kämpfern der Hamas. Der bewaffnete Arm der im Gazastreifen herrschenden Islamistenorganisation, die Kassam-Brigaden, berichteten von Konfrontationen im Nordwesten des Küstenstreifens. Die Kassam-Brigaden hätten Soldaten dort und südöstlich von der Stadt Gaza mit Panzerabwehrgranaten angegriffen.

Die israelische Armee teilte mit, im Verlauf der Nacht seien Soldaten auf Terrorzellen gestoßen, die mit Panzerabwehrraketen, Sprengsätzen und Handgranaten angegriffen hätten. Es kam demnach zu langen Kämpfen, bei denen die Soldaten Unterstützung durch Artillerie und Luftwaffe bekamen. «Dutzende Terroristen» seien dabei getötet worden. Es sei auch Infrastruktur der Hamas zerstört worden. Das Militär machte keine Angaben zu möglichen Verletzten oder Opfern in den eigenen Reihen bei den jüngsten Kämpfen. Die Hamas wird auch von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft.

Israels Militär tötet Hamas-Kommandeur im Gazastreifen

Unterdessen setzten die israelischen Streitkräfte ihren Militäreinsatz im Gazastreifen fort. Dabei töteten sie nach eigenen Angaben den Chef der Panzerabwehrraketen-Einheit der Hamas. Der hochrangige Kommandeur sei bei einem Angriff eines Kampfflugzeuges getötet worden, teilte Israels Militär mit. Die israelische Armee veröffentlichte dazu ein Video, das die Explosion eines Gebäudes aus der Luft zeigte.

Mohammed Asar sei für alle Panzerabwehrraketen-Einheiten der Hamas im gesamten Gazastreifen zuständig gewesen. Die durch ihn in Auftrag gegebenen Einsätze zielten auf israelische Zivilisten sowie Soldaten.

Israel: Zahl getöteter Zivilisten in Dschabalia unbekannt

Nach den schweren Angriffen auf das Flüchtlingslager Dschabalia kann das israelische Militär nach eigener Darstellung noch keine Angaben zur Zahl der getöteten Zivilisten machen. Die im Gazastreifen herrschende Hamas verschanze sich dort absichtlich hinter ziviler Infrastruktur, sagte Militärsprecher Daniel Hagari vor Journalisten. «Sie wollen dieses Bild der Zerstörung.»

Aufnahmen zeigen die verheerenden Folgen des Angriffs, bei dem Armeeangaben zufolge auch Tunnel der Hamas einstürzten und einen Krater hinterließen. Unter den Opfern sind nach palästinensischen Angaben viele Zivilisten. Nach Darstellung der israelischen Armee galt der Luftangriff einem Drahtzieher des Massakers an israelischen Zivilisten am 7. Oktober. 50 Terroristen seien bei dem Einsatz in Dschabalia getötet worden.

Weitere Lkw mit Hilfsgütern im Gazastreifen eingetroffen

Im Gazastreifen sind weitere 55 Lastwagen mit dringend benötigten Hilfsgütern eingetroffen. Sie hätten Wasser, Essen und Arzneimittel von Ägypten aus über die Grenze gebracht, teilte der Palästinensische Rote Halbmond am Mittwochabend mit. Damit seien seit Beginn des Kriegs zwischen Israel und der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas insgesamt 272 Lastwagen in dem abgeriegelten Küstengebiet eingetroffen.

Die Lieferung von Treibstoff sei bisher nicht genehmigt worden, hieß es weiter. Das UN-Nothilfebüro OCHA erklärte, dieser werde dringend benötigt, unter anderem für den Betrieb lebensrettender Geräte. Die Lieferung werde aber von den israelischen Behörden nicht genehmigt. Israel fürchtet, dass die im Gazastreifen herrschende Hamas den Treibstoff für militärische Zwecke nutzen könnte.

Nach israelischen Angaben fuhren am Mittwoch 61 Lastwagen über Rafah in den Gazastreifen ein. Es ist nicht klar, wieso Israel von sechs Lastern mehr ausging als der Rote Halbmond. UN-Angaben zufolge bräuchte es täglich 100 Lkw-Ladungen, um die mehr als zwei Millionen Menschen im umkämpften Gazastreifen mit dem Nötigsten zu versorgen.

Papst fordert Zwei-Staaten-Lösung

Mehr als drei Wochen nach Beginn des neuen Gaza-Kriegs forderte Papst Franziskus Israelis und Palästinenser zu einer Lösung am Verhandlungstisch auf. «Jeder Krieg ist eine Niederlage. Mit Krieg wird nichts gelöst. Nichts. Alles wird mit Frieden, mit Dialog gewonnen», sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche in einem Interview des italienischen Fernsehsenders Rai. Der 86-Jährige warb mit Nachdruck für eine Zwei-Staaten-Lösung - also jeweils einen Staat für Israel und für Palästinenser. Dieser Ansatz wird von vielen Seiten befürwortet, kommt aber trotz aller internationaler Appelle seit Jahrzehnten nicht voran.

Debatte um deutsche Enthaltung bei UN-Resolution

Trotz der deutschen Unterstützung für Israel im Kampf gegen die Hamas kritisierte der israelische Botschafter Ron Prosor die deutsche Enthaltung bei der UN-Abstimmung zum Gaza-Krieg. Das deutsche Abstimmungsverhalten in der UN-Vollversammlung sei «bereits seit Jahren verstörend und in diesem letzten Fall sogar mehr als enttäuschend», sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Der Resolution, in der zu einer «sofortigen dauerhaften und nachhaltigen humanitären Waffenruhe» im Gazastreifen aufgerufen wird, ohne den Terrorangriff der Hamas zu verurteilen, hatten 120 Länder zugestimmt. Deutschland zählte zu den 45 Staaten, die sich enthielten. Die USA stimmten mit 13 weiteren Staaten dagegen.

Außenministerin Annalena Baerbock verteidigte die deutsche Enthaltung. Deutschland falle die besondere Rolle zu, die Gesprächskanäle zu anderen Akteuren in der Region wie Ägypten oder Jordanien offen zu halten, sagte die Grünen-Politikerin in der ZDF-Sendung «Was, nun...?». Deutschland habe durch Gespräche mit anderen Ländern erreicht, dass der Text nicht einseitig Israel verurteile.

Das wird heute wichtig

Nach dem israelischen Angriff auf Ziele im Flüchtlingslager Dschabalia im Norden des Gazastreifens ist das genaue Ausmaß der Schäden und die Zahl der Opfer weiter unklar. Die Bemühungen um das Wohlergehen und die Freilassung der Hamas-Geiseln geht unterdessen weiter. Nachdem am Mittwoch erstmals seit Kriegsbeginn Hunderte Ausländer und Palästinenser mit einem zweiten Pass den ansonsten von Israel abgeriegelten Küstenstreifen Richtung Ägypten verlassen konnten, gibt es auch Hoffnung, dass die Ausreise ausländischer Staatsangehöriger in den nächsten Tagen weitergehen kann.

@ dpa.de