Schlächter, Chan

Er saß mehr als zwei Jahrzehnte lang in israelischer Haft, hat dabei systematisch Hebräisch gelernt.

16.11.2023 - 10:04:45

«Schlächter von Chan Junis»: Israel will Hamas-Chef töten. Der tiefgläubige Islamist gilt als besonders brutal, auch gegen Palästinenser.

Dieser Mann steht ganz oben auf Israels Abschussliste: der Chef der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar. Der 61-Jährige sowie alle anderen für das Massaker am 7. Oktober Verantwortlichen seien dem Tod geweiht, sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Sinwar gilt gemeinsam mit Mohammed Deif, Kommandeur des bewaffneten Arms der Terrororganisation Hamas, als Planer des Überraschungsangriffs, bei dem rund 1200 Israelis getötet wurden. Bei dem Militäreinsatz im Gazastreifen will Israel jetzt beide aufspüren.

Sinwar, ein drahtiger, bärtiger Mann mit kurzgeschorenem weißen Haar, buschigen dunklen Augenbrauen und markanten Zügen, gehört zur Gründergeneration der Hamas. Geboren wurde er 1962 im Flüchtlingslager von Chan Junis im Süden des Gazastreifens. Seine Familie stammt aus der Gegend der Küstenstadt Aschkelon, heute auf israelischem Staatsgebiet.

Die Hamas formierte sich während des ersten Palästinenseraufstands Intifada Ende der 1980er Jahre im Kampf gegen die israelische Besatzung. Sinwar war auch am Aufbau des militärischen Hamas-Arms, der Kassam-Brigaden, beteiligt. Nach Beginn des Friedensprozesses zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO verübte die Hamas über Jahre blutige Selbstmordanschläge in Israel, um diesen zu torpedieren.

Äußerst brutal auch gegen die eigenen Leute

Sinwar war in den Anfangsjahren der islamistischen Bewegung für den Kampf gegen mutmaßliche Kollaborateure mit Israel in den eigenen Reihen zuständig. Dabei ging er so brutal vor, dass er als «Schlächter von Chan Junis» bekannt wurde.

Wegen des Mordes an vier mutmaßlichen Kollaborateuren und zwei israelischen Soldaten wurde Sinwar 1988 von Israel verurteilt. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in israelischer Haft. Diese Zeit nutzte er, um Hebräisch zu lernen und den Feind zu studieren. Nach Medienberichten las er systematisch Bücher über prominente zionistische und israelische Persönlichkeiten, darunter auch die früheren Regierungschefs Menachem Begin und Izchak Rabin. Ziel sei es gewesen, ein tiefes Verständnis der israelischen Gesellschaft zu gewinnen, im Sinne von «Kenne deinen Feind». Auch israelische Medienberichte soll Sinwar aufmerksam verfolgt haben.

Im Verhör durch den Inlandsgeheimdienst Schin Bet 1989 beschrieb Sinwar, wie er die vier Palästinenser jeweils mit eigenen Händen ermordet hatte. Einen von ihnen habe er etwa nach dessen Entführung auf einen Friedhof in Chan Junis gebracht. «Ich habe ihm die Augen verbunden, ihn in ein offenes Grab getan und mit einem Tuch erwürgt», sagte Sinwar laut Verhörprotokoll. Anschließend habe er das Grab zugeschüttet. Auch einen anderen angeblichen Kollaborateur habe er mit einem Palästinensertuch erwürgt.

Mussab Hassan Jussef, Sohn eines Hamas-Mitbegründers, erzählte über Sinwar: «Er hat im Gefängnis jemanden geköpft, weil er ihn der Zusammenarbeit mit Israel verdächtigte, und benutzte dabei das Waschbecken im Badezimmer. Gnadenlos. Und das ist der Mann, der heute in der Hamas im Gazastreifen das Sagen hat.» Jussef war selbst vom israelischen Geheimdienst angeworben worden und hat sich von der Hamas losgesagt.

Während seiner Zeit im Gefängnis habe Sinwar sich bereits als Führungspersönlichkeit positioniert und auch Morde an anderen Häftlingen in Auftrag gegeben, sagte Professor Kobi Michael vom israelischen Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS). Er beschreibt Sinwar als «grausame, psychopathische Persönlichkeit», jedoch gleichzeitig als intelligente, sehr charismatische und starke Führungskraft. Während seiner Haft war Sinwar nach Medienberichten wegen eines Hirnabszesses in Lebensgefahr - israelische Ärzte retteten demnach mit einer Operation sein Leben.

Freilassung als Teil eines Gefangenenaustauschs mit Israel

2011 kam Sinwar frei - als einer von mehr als 1000 palästinensischen Häftlingen im Gegenzug für den israelischen Soldaten Gilad Schalit. Sinwars Bruder soll an der Entführung des Soldaten 2006 beteiligt gewesen sein. Für den Schalit-Deal wurde Netanjahu später immer wieder kritisiert.

Nach seiner Freilassung war Sinwar zuständig für die Verbindung zwischen militärischem und politischem Arm der Hamas. 2017 wurde er dann Hamas-Chef im Gazastreifen. Seitdem hat er immer wieder versucht, die 2006 von Israel verschärfte Blockade des Gazastreifens zu beenden, die über die Jahre auch von Ägypten mitgetragen wurde. Dabei setzte er unter anderem auf gewaltsame Proteste am Trennzaun.

Die Charta der Hamas sei extrem und rufe zur Zerstörung Israels auf, sagte der palästinensische Journalist und Hamas-Kenner Mohammed Daraghmeh. Sinwar habe aber zumindest zeitweise auch auf pragmatischere Positionen gesetzt.

2017 hatte die Hamas in einem Grundsatzpapier leicht korrigierte politische Positionen vorgestellt. Sie deutete die Bereitschaft an, einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 zumindest zeitweise zu akzeptieren. Die Hamas bekräftigte jedoch gleichzeitig den Willen zum bewaffneten Widerstand gegen Israel, den Anspruch auf das gesamte historische Palästina sowie die Forderung nach einer Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge. Experten stuften die Veröffentlichung des Papiers damals als Bestreben der Hamas ein, aus der internationalen Isolation auszubrechen.

Sinwars stategischer Plan

Das Massaker am 7. Oktober sieht Daraghmeh als Versuch Sinwars, mit dem Einsatz extremer Gewalt «den Spieß umzudrehen». Er habe einen Punkt erreicht, «an dem er dachte, dass Israel den Palästinensern nie einen Staat geben wird, der Westen die Hamas niemals anerkennt.» Innerhalb des Gazastreifens sei angesichts einer wirtschaftlichen Krise die Unzufriedenheit der Bevölkerung immer größer geworden. «Alle haben geklagt, wer Gaza verlassen konnte, hat Gaza verlassen.»

Die Hamas sei international isoliert gewesen, gleichzeitig habe es Gespräche über eine Annäherung Israels an Saudi-Arabien gegeben. Dazu seien Provokationen durch Mitglieder der rechtsreligiösen Regierung Israels auf dem Tempelberg in Jerusalem und Sorgen vor einer Annexion weiterer Gebiete im Westjordanland gekommen. Auch deshalb habe Sinwar versucht, «Israels Willen mit Gewalt zu brechen».

Sinwar habe sich dabei aber offenbar verkalkuliert, sagte Daraghmeh. «Hamas-Kämpfer haben Gräueltaten in israelischen Ortschaften begangen, die Weltöffentlichkeit war auf Israels Seite und die Amerikaner haben Flugzeugträger in die Region geschickt.» Sinwar habe offenbar auch mit stärkerer Unterstützung der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah und des Irans gerechnet.

Auch Michael glaubt, dass Sinwar «einen strategischen Plan hatte, alle Fronten gegen Israel zu aktivieren». Ziel sei «eine Zangenbewegung, die zum Zusammenbruch Israels führt» gewesen. Die «Achse des Widerstands» unter iranischer Führung beabsichtige einen langfristigen Zermürbungskrieg, der Israel gesellschaftlich und wirtschaftlich in die Knie zwingen solle. «Sie gehen davon aus, dass Israel eine westliche Gesellschaft ist, die nicht resilient genug ist, um damit umzugehen.» Auch Michael denkt, dass Sinwar von der starken US-Reaktion und eher schwachen Unterstützung durch die Hisbollah und den Iran überrascht sei.

Kampf bis zum Ende

Netanjahu sagte über Sinwar, er interessiere sich nicht für das Schicksal seines Volkes und verhalte sich «wie ein kleiner Hitler in seinem Bunker». Auch Michael meint, Sinwar habe «kein Problem damit, sein eigenes Volk zu opfern».

Daraghmeh geht ebenso davon aus, dass Sinwar und der Rest der Hamas-Führung sich in dem Tunnelsystem im Gazastreifen versteckt hält. «Sie haben sich monatelang, wenn nicht jahrelang darauf vorbereitet», sagt Daraghmeh. «Sie haben mit der Invasion gerechnet.»

Beide Experten halten es für sehr unwahrscheinlich, dass Sinwar und andere Hamas-Führer sich im Kampf ergeben könnten. «Sie werden bis zum Ende kämpfen», sagt Daraghmeh. «Sie glauben, dass sie in den Himmel kommen, wenn sie als Märtyrer sterben.»

@ dpa.de