Fragen, Absturz

Ein russisches Militärflugzeug stürzt ab - angeblich mit Dutzenden ukrainischen Kriegsgefangenen an Bord.

25.01.2024 - 12:40:10

Viele offene Fragen nach Absturz von russischem Trabsporter. Russische Propaganda? Kiew hat keine Hinweise und will bei der Aufklärung des Vorfalls internationale Hilfe.

Im Fall der abgestürzten russischen Il-76 hat die ukrainische Seite bisher keine Hinweise auf einen Transport von Kriegsgefangenen in dem Flugzeug. «Wir haben keinerlei Anzeichen dessen gesehen, dass sich im Flugzeug eine große Anzahl von Menschen befand - ob nun Bürger der Ukraine oder keine Bürger der Ukraine», sagte der Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinez im Nachrichtenfernsehen. Wie Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach er sich für eine internationale Untersuchung des Vorfalls aus. Er bestätigte erneut den gescheiterten Gefangenenaustausch.

Lubinez betonte, gemäß der Genfer Konvention trage das Aufenthaltsland die gesamte Verantwortung für Leben und Gesundheit der Kriegsgefangenen. «Das ist die Russische Föderation», unterstrich der Ombudsmann. Moskau sei vor dem Austausch verpflichtet gewesen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz über den Transportweg von Kriegsgefangenen zu informieren. Er warf der russischen Seite eine gezielte und lang geplante Kampagne zur Verleumdung der Ukraine vor.

Am Vortag war ein russisches Militärtransportflugzeug vom Typ Iljuschin 76 bei Belgorod nahe der ukrainischen Grenze abgestürzt. Moskau warf Kiew vor, das Flugzeug mit zwei Raketen abgeschossen zu haben. In der Iljuschin sollen sich nach Darstellung des russischen Verteidigungsministeriums neben der sechsköpfigen Besatzung und drei Begleitern noch 65 ukrainische Kriegsgefangene befunden haben. Die ukrainische Seite bestätigte zwar einen geplanten Gefangenenaustausch. Anfängliche Medienberichte über einen Abschuss des Flugzeugs wurden nach kurzer Zeit zurückgezogen.

Selenskyj: Spiel mit den Emotionen unserer Gesellschaft

Noch sind in dem Fall aber weiter viele Fragen offen. Selenskyj hatte gesagt, der ukrainische Militärgeheimdienst HUR versuche derzeit, mehr über das Schicksal der ukrainischen Kriegsgefangenen zu erfahren. Er habe zudem seinen Außenminister Dmytro Kuleba angewiesen, ausländische Partner mit allen Informationen zu versorgen, die der Ukraine zur Verfügung stünden. «Unser Staat wird auf einer internationalen Aufklärung bestehen», betonte er. Selenskyj sagte außerdem: «Es ist offensichtlich, dass die Russen mit dem Leben von ukrainischen Gefangenen, mit den Gefühlen ihrer Angehörigen und mit den Emotionen unserer Gesellschaft spielen.»

Ukraine macht Russland Vorwürfe

In einer Mitteilung des ukrainischen Militärgeheimdienstes hieß es zudem: «Derzeit haben wir keine verlässliche und umfassende Information darüber, wer genau und wie viele sich an Bord des Flugzeugs befanden.» Die Ukraine habe ihrerseits alle Vereinbarungen eingehalten und die russischen Soldaten pünktlich zum Austauschort gebracht, so die Behörde.

Weiter hieß es: «Gemäß der Vereinbarung musste die russische Seite die Sicherheit unserer Verteidiger gewährleisten. Zugleich wurde die ukrainische Seite nicht über die Notwendigkeit informiert, die Sicherheit des Luftraums im Gebiet um die Stadt Belgorod in einem bestimmten Zeitraum zu gewährleisten, so wie das in der Vergangenheit mehrfach getan wurde.»

Dass die ukrainische Seite dieses Mal nicht über die genauen russischen Transportmittel in Kenntnis gesetzt worden sei, «könnte auf vorsätzliche Maßnahmen Russlands hinweisen, die darauf abzielen, das Leben und die Sicherheit von Gefangenen zu gefährden», schrieb die ukrainische Behörde. Staatliche russische Medien werteten die Mitteilung als indirekte Bestätigung dafür, dass die Ukrainer das Flugzeug mit ihren eigenen Soldaten an Bord abgeschossen hätten. Offiziell gibt es eine solche Bestätigung aus Kiew allerdings nicht.

Kreml sieht weiteren Klärungsbedarf

Russland sieht nach dem Absturz nach Kremlangaben weiteren Klärungsbedarf. «Es ist noch nicht bis zum Ende geklärt, was passiert ist, gestern erst haben die Ermittler damit begonnen, die Überreste des Flugzeugs zu untersuchen», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag russischen Agenturen zufolge. Er hatte sich am Mittwoch, als die Maschine im Gebiet Belgorod abgestürzt war, zunächst nicht geäußert.

Kremlchef Wladimir Putin sei vom Militär informiert worden, sagte Peskow. Eine Reaktion soll es demnach erst geben, wenn offene Fragen geklärt seien. Dazu sollen auch die sichergestellten Flugschreiber ausgewertet werden, wie Staatsmedien in Moskau meldeten. Zu Selenskyjs Forderungen nach einer internationalen Untersuchung des Absturzes sagte Peskow: «Wenn er damit eine internationale Untersuchung zu den kriminellen Handlungen des Kiewer Regimes im Blick hat, dann ist das nötig.»

Peskow ließ offen, ob es in Zukunft weitere Gefangenenaustausche geben könne. «Der Austausch von Gefangenen ist ein Prozess, der in vollkommener Ruhe abläuft. Dass die Ukrainer nun ihre eigenen Gefangenen getötet haben, ihre eigenen Bürger, die buchstäblich innerhalb von 24 Stunden wieder zu Hause sein sollten, das ist natürlich ein schrecklicher Akt», sagte Peskow. «Das will einem nicht in den Kopf gehen.» Wie sich das auf künftige Gefangenenaustausche auswirke, könne derzeit niemand sagen. In Kiew hatte Selenskyj die Heimholung Tausender Ukrainer aus russischer Gefangenschaft stets als vorrangiges Ziel genannt.

US-Institut: Moskau instrumentalisiert den Vorfall

Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington teilten mit, dass weder die russischen noch die ukrainischen Angaben unabhängig überprüft werden könnten. Nach ihren Angaben instrumentalisiert die russische Führung den Vorfall, um in der ukrainischen Gesellschaft Misstrauen zu säen gegen die Regierung in Kiew. Besonders die Frage des Austauschs von Kriegsgefangenen gelte für Ukrainer und Russen gleichermaßen als sensibles Thema, das Emotionen auslöse. Zudem wollten russische Funktionäre mit unbewiesenen Behauptungen, dass die Ukraine für den mutmaßlichen Abschuss deutsche oder US-Raketen eingesetzt habe, die militärische Unterstützung des Westens für das Land schwächen.

@ dpa.de