Wolodymyr Selenskyj, Cherson

Der ukrainische Präsident schwört sein Land nach «Erfolgen» bei der Offensive gegen die russischen Besatzer auf einen Sieg ein.

13.06.2023 - 18:38:44

Kiew spricht von Erfolgen bei Offensive. Aber die Verluste sind hoch.

Seit Tagen hissen ukrainische Streitkräfte immer wieder stolz die blau-gelbe Flagge in den von der russischen Besatzung befreiten kleinen Ortschaften. Von sechs Dörfern im Gebiet Donezk und einem Ort im Gebiet Saporischschja spricht Kiew. Mehr als 90 Quadratkilometer insgesamt.

Es sind die ersten psychologisch wichtigen «Erfolge», die in Kiew ein sichtlich müder Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft verkündet. Kämpferisch verspricht er: «Wir glauben an den Sieg, er wird kommen!»

Ungewohnt kleinlaut dagegen Kremlchef Wladimir Putin, der nach einem Sektempfang zum nationalen Feiertag Tag Russlands am Montag verletzte Soldaten im Krankenhaus besuchte und auszeichnete. Auf seine Standardsätze wie «Der Sieg wird unser sein» oder «Alles läuft nach Plan» verzichtete er. Putin lässt vielmehr immer wieder auch Wohnhäuser in der Ukraine bombardieren. In der südöstlichen Großstadt Krywyj Rih starben bei einem Raketenangriff mindestens zehn Menschen.

Selenskyj spricht von einem «harten Kampf»

Doch Selenskyj macht seit Tagen klar, dass weder Raketen noch die Flut durch die Zerstörung des Staudamms im umkämpften Gebiet Cherson die Ukraine von ihrer Großoffensive abbringen lasse. Deren Hauptteil hat dem Vernehmen nach noch nicht begonnen. Selenskyj hätte auch gern mehr Waffen vom Westen gehabt, darunter Kampfjets vom Typ F-16. Aber er meinte, die Offensive könne nicht noch Monate warten. Selenskyj spricht von einem «harten Kampf» - auch weil Regen im Moment die Böden aufweicht. Schweres Militärgerät kommt so kaum voran.

Zwar liegt die Initiative nach tagelangen Offensivhandlungen des ukrainischen Militärs ganz klar bei Kiew; Moskau und die russische Armee sind in der Defensive. Aber noch sind Kiews Truppen nach Einschätzung von Experten auch nicht an die Hauptverteidigungslinie der Russen vorgedrungen. Die Ukraine versucht, mit taktischen Operationen in dem verminten Gebiet an die gut gesicherten Linien der Russen vorzustoßen, Schwachstellen zu finden, um dort einzubrechen.

«Das russische Militär bleibt gefährlich»

Von einem Durchbruch könne bisher aber keine Rede sein, stellen Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) fest. Erschwert würden die ukrainischen Vorstöße auch durch die russische Dominanz im Luftraum. Die Ukrainer erlitten Verluste gegen einige «der am besten vorbereiteten russischen Streitkräfte», heißt es in der ISW-Analyse. «Das russische Militär bleibt gefährlich, und die ukrainischen Truppen sehen sich einem harten Kampf ausgesetzt.» Trotzdem sei die Front - nach russischen Angaben 815 Kilometer lang - nicht überall gleich stark gesichert.

Die Ukraine stellt sich auf einen langen Kampf ein - wie Russland. Zwar hat Kiew nach Angaben des russischen Präsidenten Putin bereits ein Viertel der gelieferten westlichen Waffen verloren und zehnmal so hohe Verluste wie die russischen Truppen erlitten. Und auch das Verteidigungsministerium in Moskau meldet nur Erfolge und will alle Angriffe abgewehrt haben. Russische Feldkommandeure und Militärblogger sprechen hingegen von schweren Gefechten - mit Verlusten auf beiden Seiten.

Der Chef der Söldnereinheit Wagner, Jewgeni Prigoschin, ist seit Monaten im Streit mit dem Verteidigungsministerium und hat auch für die verkündeten gigantischen Abschusszahlen der Behörde nur Spott übrig. Als Minister Sergej Schoigu vor einer Woche bereits den Abschuss von acht Leopard-Kampfpanzern verkündete, kommentierte er nur sarkastisch: «Da erblasst sogar Baron Münchhausen vor Neid.» Wenn es so weitergehe, kämpfe Russlands bald mit Aliens.

Inzwischen gibt es tatsächlich erste bestätigte Abschüsse von Leoparden. Dennoch sei es für eine reale Einschätzung des Kampfgeschehens zu früh, meint Prigoschin. Die Reserven der Ukrainer seien groß, ihr Angriffspotenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft. «In einem, anderthalb oder zwei Monaten können wir feststellen, ob sie ein Resultat erzielt haben oder nicht», sagte er am Dienstag.

Insgesamt sehen sich die Russen immerhin besser durch die erste Woche der Offensive gekommen als befürchtet. Der auf russischer Seite kämpfende Feldkommandeur Alexander Chodakowski, der Moskau widersprochen und erste Erfolge der Ukrainer an der Front bestätigt hatte, betonte, es sei den Russen gelungen, einen Durchbruch zu verhindern. «Die Gefechte der letzten Tage haben gezeigt, dass der Feind frustriert wird und einbricht, wenn wir hartnäckig bleiben.»

Der Ultranationalist und frühere Geheimdienstoffizier Igor Girkin, bekannt als Strelkow, warnte allerdings vor Euphorie. Die Offensive stehe erst am Anfang. «Der Gegner hat etwa ein Drittel seiner strategischen Reserven eingesetzt», schrieb er in seinem Telegram-Kanal. Die russische Führung werde spätestens im Herbst zu einer neuen Mobilmachung gezwungen sein, wenn nicht eine militärische Niederlage im Gebiet Saporischschja schon im Sommer das Auffrischen der eigenen Kräfte nötig mache, meinte Girkin.

Ukraine fordert mehr Waffen

Die Ukraine macht indes deutlich, dass sie auch angesichts von ersten Verlusten etwa bei den von Deutschland gelieferten Panzern weitere Unterstützung und vor allem Nachschub braucht, um Erfolg zu haben. Keiner sagt das so deutlich wie Kiews Vizeaußenminister Andrij Melnyk, der vorher Botschafter in Deutschland war. Er hatte eine Verzehnfachung der Hilfe gefordert. Jedes Land solle ein Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die ukrainische Militärhilfe ausgeben. Das wären allein im Fall von Deutschland mehr als 35 Milliarden Euro.

«Die ukrainische Armee braucht am dringendsten viel mehr westliche Kampfpanzer, Schützenpanzer und weitere gepanzerte Fahrzeuge», sagte er nun auch dem «Tagesspiegel». «Jeder Leopard 2 ist für die entscheidende Offensive buchstäblich Gold wert.» Die Bundeswehr könne ihm zufolge mehr als die bereits gelieferten 18 Stück aus ihrem Bestand von mehr als 300 zur Verfügung zu stellen. Die aktuelle Zahl könne «verdreifacht werden, ohne die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu gefährden». Melnyk bat um «weitere 60 Marder-Schützenpanzer» für die Ukraine.

Selenskyj forderte unlängst auch noch deutlich mehr als die bisher gelieferten zwei Patriot-Flugabwehrsysteme - bestenfalls 50 Stück. Militärs in Kiew sprechen offen darüber, dass viele ukrainische Ortschaften schon heute so aussehen würden wie die völlig zerschossenen Städte Bachmut und Mariupol, wenn es die Flugabwehr nicht gäbe. Ziel ist nun, neben der geplanten Kampfjet-Allianz für 48 von Kiew geforderten F-16 noch eine Patriot-Koalition zu starten. So will das Land wieder die Hoheit über den Luftraum und damit eine wesentliche Sicherheitsgarantie erlangen.

@ dpa.de