Brisantes, Völkermord-Verfahren

Der Gaza-Krieg beschäftigt nun auch die höchsten UN-Richter.

11.01.2024 - 05:24:21

Brisantes Völkermord-Verfahren: Israel vor dem UN-Gericht. Ausgerechnet Israel wird Völkermord vorgehalten. Ein Beweis dürfte schwierig werden. Aber das Verfahren birgt für Israel Risiken.

Israel muss sich wegen der Angriffe im Gazastreifen erstmals wegen des Vorwurfs des Völkermordes vor dem Internationalen Gerichtshof verantworten. Südafrika hat das Land verklagt. Beide Regierungen schicken hochrangige Delegationen in den Friedenspalast in Den Haag. Was wird dort verhandelt? Und was sind mögliche Folgen? Fragen und Antworten zur hochbrisanten Klage:

Was ist der Internationale Gerichtshof?

Der Internationale Gerichtshof ist das höchste Gericht der Vereinten Nationen. Dieses Weltgericht ist nicht zu verwechseln mit dem Internationalen Strafgerichtshof, der sich ebenfalls in Den Haag befindet. Dieser befasst sich mit individuellen Anklagen, während der UN-Gerichtshof über Konflikte zwischen Staaten entscheiden soll. Sowohl Israel als auch Südafrika durften jeweils einen Richter zusätzlich zum permanenten Kollegium von 15 Richtern entsenden. Südafrika vertritt der Richter Dikgang Ernest Moseneke (76), ein ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof des Landes. Die südafrikanische Delegation wird von Justizminister Ronald Lamoa geleitet. Israel schickt den früheren Richter am Obersten Gerichtshof, Aharon Barak (87), einen Überlebenden des Holocaust.

Was wirft Südafrika Israel vor?

In der 84 Seiten langen Klageschrift beschreibt Südafrika die Gewalt Israels gegen Palästinenser im Gazastreifen als Taten mit dem Charakter eines Völkermords. Israel töte Palästinenser, «füge ihnen schweren geistigen und körperlichen Schaden zu und schaffe Lebensumstände, die auf ihre physische Zerstörung zielen». Die Rechtsvertreterin Südafrikas, Adila Hassim, sprach von einem «systematischen Muster, das auf Absicht des Völkermordes hinweist.»

Südafrika verweist auf die hohe Zahl von mehr als 21.000 Todesopfern im Gazastreifen, die nach Angaben des von der islamistischen Hamas kontrolliert Gesundheitsministeriums inzwischen auf mehr als 23.000 angestiegen ist. Südafrika nennt in seiner Klage zudem israelische Bombenangriffe, erzwungene Flucht, Angriffe auf Krankenhäuser und Geburtskliniken sowie die Blockade des Gebiets, die zu einem Mangel an Nahrungsmitteln und Trinkwasser geführt hat.

Das Land zitiert UN-Experten, Zeugen und Hilfsorganisationen. Auch werden Äußerungen israelischer Minister und Offiziere als Beleg für die Absicht des Völkermords angeführt. So etwa Zitate wie «Wir werden keinen verschonen» oder «Wir werden den Gazastreifen von der Erde ausradieren». Südafrika spricht von «direkter und öffentlicher Anstiftung zum Völkermord». Zitiert werden Drohungen, Gaza unbewohnbar zu machen sowie Forderungen von rechtsextremen Ministern, Palästinenser dauerhaft zu vertreiben. Unter dem Eindruck des Massakers vom 7. Oktober, bei dem Terroristen der Hamas und anderer Gruppierungen in Israel mehr als 1200 Menschen getötet und rund 250 verschleppten, hatte Verteidigungsminister Joav Galant etwa von «menschlichen Tieren» gesprochen und erklärt: «Wir werden alles auslöschen.»

Was ist die Grundlage der Klage?

Südafrika beruft sich auf die UN-Völkermordkonvention. Beide Staaten haben diese Konvention unterzeichnet und sich damit nicht nur verpflichtet, keinen Völkermord zu begehen, sondern auch diesen zu verhindern und zu bestrafen. In der Konvention wird Völkermord definiert als eine Handlung, «die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören».

Israel ist durch diese Beschuldigung im Kern getroffen: Der Staat war schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge des Völkermordes an den Juden durch die deutschen Nazis gegründet worden.

Was ist die Reaktion Israels?

Israel weist die Vorwürfe entschieden zurück und beruft sich auf das Recht zur Selbstverteidigung nach den Angriffen vom 7. Oktober. «Die Vergewaltigungsmaschine der Hamas trägt volle moralische Verantwortung für alle Opfer in diesem Krieg.» Alles werde getan, um zivile Bürger zu schützen, hieß es.

Wie läuft die Anhörung ab?

Zunächst hat Südafrika am Donnerstag seine Klage erläutert. Am Freitag hat Israel die Gelegenheit, zu antworten. Bei der Anhörung geht es zunächst um einen Eilantrag Südafrikas. Es hatte das Gericht aufgefordert, das sofortige Ende der militärischen Handlungen anzuordnen und die Rechte der Palästinenser zu schützen.

Das heißt, dass die UN-Richter jetzt noch nicht feststellen müssten, ob tatsächlich Völkermord verübt wurde. Es würde die Möglichkeit ausreichen, dass die Konvention verletzt wurde. Das ist eine niedrige Schwelle für eine Entscheidung. Aber auch dafür gilt, dass es deutliche Hinweise auf eine Absicht Israels geben muss, die Palästinenser auszulöschen. Dann könnten die Richter Israel theoretisch auferlegen, die Gewalt sofort zu beenden, um weiteren Schaden zu verhindern. Sie könnten auch anordnen, dass Israel mehr humanitäre Hilfe zulassen muss.

Wann ist ein Urteil zu erwarten?

Über den Eilantrag werden die Richter in wenigen Wochen entscheiden. Jeder Spruch ist bindend. Das Gericht hat zwar keine Machtmittel, um die Durchsetzung zu erzwingen. Doch der internationale Druck auf Israel würde sich erhöhen und eine negative Entscheidung könnte dem Ruf des Landes schaden.

Wann wird über die Hauptklage entschieden?

Ein solches Verfahren kann sich über Jahre hinziehen.

Warum klagt ausgerechnet Südafrika?

Jeder Unterzeichnerstaat der Völkermordkonvention kann eine solche Klage einreichen. Südafrika ist ein kräftiger Unterstützer der Rechte der Palästinenser. Das Land vergleicht seine Apartheid-Vergangenheit, also die rassistische Unterdrückung durch eine Regierung der weißen Minderheit, mit dem Umgang Israels mit den Palästinensern.

@ dpa.de