Inklusion, Krise

Inklusion in der Krise: Erbitterter Streit um Sozialgesetzbuch IX

06.12.2025 - 10:40:12

Unternehmen und Schwerbehindertenvertretungen stehen vor einem Dilemma: Während Bundesländer Sparmaßnahmen bei der Eingliederungshilfe durchsetzen wollen, warnen Behindertenbeauftragte vor einem Rückschritt bei den Menschenrechten. Die Inklusionsvereinbarung nach § 166 SGB IX wird zur letzten Verteidigungslinie – gerade jetzt, wo viele Betriebe ihre Vereinbarungen für 2026 neu verhandeln.

Am gestrigen Freitag eskalierten die Spannungen: Die Konferenz der Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten (KBB) veröffentlichte ein scharfes Positionspapier, das sich explizit gegen Beschlüsse der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) richtet. Der Vorwurf wiegt schwer: Unter dem Deckmantel der “Zukunftssicherung” sollen Rechte von Menschen mit Behinderungen eingeschränkt werden.

Was bedeutet das für die Praxis? Tausende Betriebsräte und Schwerbehindertenvertretungen verhandeln derzeit ihre Inklusionsvereinbarungen – und die politische Großwetterlage könnte kaum ungünstiger sein.

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Der Auslöser für den aktuellen Konflikt ist ein Beschluss der ASMK vom 26. September 2025 mit dem harmlos klingenden Titel “Eingliederungshilfe zukunftsfest aufstellen”. Die Behindertenbeauftragten sehen darin jedoch einen getarnten Kahlschlag.

“Die Ziele des Bundesteilhabegesetzes sind keine nachrangigen politischen Zielsetzungen, sondern die Umsetzung menschenrechtlicher Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention”, stellte die KBB in ihrer Erklärung vom 5. Dezember unmissverständlich klar. Besonders pikant: Die niedersächsische Landesbeauftragte Annetraud Grote kritisierte öffentlich, dass der “personenzentrierte Ansatz” des SGB IX – wonach Unterstützung sich an individuellen Bedürfnissen orientiert – nicht budgetären Zwängen geopfert werden dürfe.

Für Unternehmen bedeutet dies Planungsunsicherheit. Die Eingliederungshilfe finanziert viele Maßnahmen, die in betrieblichen Inklusionsvereinbarungen vereinbart werden: externe Jobcoaches, technische Arbeitsplatzanpassungen, Lohnkostenzuschüsse. Werden die Förderkriterien verschärft, wie die ASMK andeutet, könnten diese Kosten künftig stärker auf die Arbeitgeber abgewälzt werden.

BGG-Reform als “Papiertiger” – Druck auf Privatwirtschaft steigt

Die Frustration der Verbände entlud sich bereits am 3. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe und der Sozialverband VdK nutzten den Aktionstag für scharfe Kritik an der Bundesregierung.

Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und ehemalige Bundesministerin, nannte den aktuellen Gesetzentwurf zur Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) einen “zahnlosen Papiertiger”. Der Grund: Private Unternehmen bleiben weitgehend außen vor – verbindliche Barrierefreiheitspflichten? Fehlanzeige.

Diese Regelungslücke macht die Inklusionsvereinbarung nach § 166 SGB IX faktisch zum einzigen wirksamen Rechtsinstrument, um Barrierefreiheit und Inklusion in privaten Betrieben durchzusetzen.

“Mit der stockenden BGG-Reform und der kaum regulierten Privatwirtschaft ist die Inklusionsvereinbarung längst mehr als eine bürokratische Pflichtübung. Sie ist die Brandmauer”, erklärte ein Berliner Arbeitsrechtsexperte am Donnerstag. “Wenn der Staat flächendeckende Barrierefreiheit nicht vorschreibt, müssen Schwerbehindertenvertretungen diese Rechte Betrieb für Betrieb über § 166 SGB IX sichern.”

Was heißt das für laufende Verhandlungen?

Für die Tausenden Schwerbehindertenvertretungen und Betriebsräte, die gerade ihre Inklusionsziele für 2026 festlegen, liefern die Ereignisse der vergangenen 72 Stunden sowohl eine Warnung als auch ein mächtiges Druckmittel.

Nach § 166 SGB IX ist jeder Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, eine verbindliche Inklusionsvereinbarung mit den Arbeitnehmervertretungen abzuschließen. Diese muss Personal-, Arbeitsplatz- und Arbeitsorganisationsmaßnahmen zur Förderung behinderter Beschäftigter regeln.

Die Unsicherheit, auf die das KBB-Positionspapier vom 5. Dezember hinweist, lässt jedoch befürchten: Externe Unterstützungsstrukturen wie die Integrationsämter könnten 2026 mit strengeren Budgetbeschränkungen konfrontiert sein, sollten die “Effizienzpläne” der ASMK Realität werden.

Konkrete Folgen für Verhandlungsführer:

  1. Verhärtete Fronten: Arbeitgeber könnten den unsicheren Rechtsrahmen nutzen, um kostspielige Arbeitsplatzanpassungen zu verzögern.

  2. Beschäftigungsquoten werden entscheidend: Da die externe “Peitsche” der BGG-Reform schwach bleibt, sollten Schwerbehindertenvertretungen verstärkt auf interne, verbindliche Quoten drängen – möglichst über die gesetzlichen 5 Prozent hinaus.

  3. Budgets absichern: Experten empfehlen, in neuen Inklusionsvereinbarungen explizit betriebseigene Inklusionsbudgets zu definieren, die unabhängig von schwankenden staatlichen Zuschüssen sind.

Wirtschaft reagiert verhalten – Ausgleichsabgabe als Gegengewicht

Die Arbeitgeberseite hat bislang nicht direkt auf das KBB-Papier vom 5. Dezember reagiert. Allerdings deckt sich die von der ASMK geforderte “Bürokratiereduzierung” grundsätzlich mit Arbeitgeberinteressen.

Doch die Spannung zwischen dem Ressourcenbedarf für echte Inklusion und dem Wunsch nach Deregulierung wächst. Der Handelsverband Hannover aktualisierte kürzlich seine Hinweise zur Ausgleichsabgabe für 2025 und erinnerte Unternehmen an die verschärften Strafzahlungen für Betriebe ohne einen einzigen schwerbehinderten Beschäftigten. Dieser finanzielle Druck wirkt als Gegenkraft zur politischen Unsicherheit: Staatliche Förderung mag zur Debatte stehen – die Kosten der Nicht-Inklusion bleiben hoch.

Was kommt in den nächsten Wochen?

Die entscheidenden Fragen lauten:

Wird die ASMK reagieren? Gehen die Arbeits- und Sozialminister auf die Kritik der KBB ein – oder setzen sie ihre “Zukunftsreformen” trotz der gestern geäußerten menschenrechtlichen Bedenken durch?

Wie verlaufen die Verhandlungen im ersten Quartal 2026? Viele Inklusionsvereinbarungen laufen zum Jahreswechsel aus. Der aktuelle Streit um die SGB-IX-Finanzierung dürfte sich in den Präambeln dieser neuen Vereinbarungen niederschlagen.

Innerbetriebliche Stabilität als Antwort

Die Botschaft zum Wochenende ist eindeutig: Der rechtliche Rahmen für Inklusion auf Bundesebene gleicht einem Schlachtfeld widerstreitender Interessen – Haushaltskonsolidierung gegen Menschenrechtsausbau.

In diesem Sturm wird die Inklusionsvereinbarung zum Stabilitätsanker. Wer jetzt auf Betriebsebene konkrete, überprüfbare Maßnahmen festschreibt, kann seine Belegschaft gegen mögliche Leistungskürzungen abschirmen, die auf ministerieller Ebene diskutiert werden.

“Die KBB hat beim SGB IX eine rote Linie gezogen”, so ein Vertreter der Bundesarbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretungen (BAG SBV) am Freitag vertraulich. “Jetzt liegt es an den lokalen Vertretungen, diese Linie in jeder Fabrik und jedem Büro bundesweit zu halten.”

Die Aufforderung der Behindertenbeauftragten an die Landesminister, ihren September-Beschluss zu überarbeiten, dürfte noch diesen Monat auf den behindertenpolitischen Foren für Gesprächsstoff sorgen. Bis dahin bleibt die Inklusionsvereinbarung der greifbarste Beweis für das Inklusionsengagement eines Unternehmens – unabhängig davon, welcher politische Wind in Berlin gerade weht.

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