Bundesarbeitsgericht, Mehrarbeit

Bundesarbeitsgericht: Überstundenzuschläge ab erster Mehrarbeit für Teilzeitkräfte

06.12.2025 - 08:00:12

Schluss mit doppelten Standards: Teilzeitbeschäftigte in Deutschland haben ab sofort Anspruch auf Überstundenzuschläge – und zwar bereits dann, wenn sie ihre individuell vereinbarte Arbeitszeit überschreiten. Das entschied das Bundesarbeitsgericht in Erfurt und beendet damit eine jahrzehntelange Praxis, die Millionen Arbeitnehmer systematisch benachteiligte.

Die Dimension dieser Entscheidung wird erst jetzt, eine Woche nach dem Urteil vom 26. November 2025, in ihrer vollen Tragweite deutlich: Unternehmen müssen ihre Abrechnungssysteme sofort anpassen. Eine Übergangsfrist gewährte das Gericht ausdrücklich nicht. Personalabteilungen und Rechtsberater arbeiten seit Tagen auf Hochtouren.

Bisher galt in zahlreichen Tarifverträgen eine simple, aber unfaire Regel: Überstundenzuschläge – typischerweise 25 Prozent oder mehr – wurden erst gezahlt, wenn die Vollzeit-Wochenarbeitszeit überschritten wurde. Für eine Teilzeitkraft mit 20 oder 30 vertraglich vereinbarten Stunden bedeutete das konkret: Sie konnte deutlich mehr als vereinbart arbeiten, ohne die Zuschläge zu erhalten, die Vollzeitbeschäftigte bei vergleichbarer Mehrarbeit längst kassierten.

Der Fünfte Senat des BAG erklärte solche Klauseln nun für rechtswidrig. Im konkreten Fall eines Lagerarbeiters aus Bayern (5 AZR 118/23) stellten die Richter unmissverständlich fest: Wer zwischen seiner vertraglich vereinbarten Stundengrenze (hier: 30,8 Stunden) und der Vollzeitgrenze (37,5 oder 40 Stunden) arbeitet, hat Anspruch auf Zuschläge. Punkt.

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Die Begründung überzeugt durch Klarheit: Die Belastung durch Mehrarbeit beginnt in dem Moment, in dem die vereinbarte Arbeitszeit überschritten wird – unabhängig von der absoluten Stundenzahl. Eine objektive Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung? Konnten die beklagten Arbeitgeber nicht liefern.

“Pro rata temporis” gilt ab sofort

Das Urteil verankert seine Logik im Pro-rata-temporis-Prinzip nach § 4 Absatz 1 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG). Die Richter stellten klar: Ungleichbehandlung ist nur bei objektiven Gründen zulässig – die hier fehlen.

Besonders brisant: Das Gericht wies das Argument zurück, Zuschläge sollten ausschließlich die „besondere Belastung” von mehr als 40 Wochenstunden kompensieren. Stattdessen erkannten die Richter an, dass für Teilzeitkräfte das Überschreiten ihrer spezifischen Vereinbarung eine vergleichbare Belastung darstellt wie für Vollzeitbeschäftigte das Überschreiten ihrer Grenze.

„Das BAG hat unmissverständlich klargestellt, dass Teilzeitbeschäftigte anteilig zum Vollzeitschwellenwert Anspruch auf den tariflichen Überstundenzuschlag haben”, fassten Rechtsexperten am Donnerstag zusammen.

Keine Schonfrist für Arbeitgeber

Was die Entscheidung besonders scharf macht: Das Gericht gewährte keine Übergangsfrist. Die diskriminierenden Tarifregelungen sind teilunwirksam und müssen sofort durch eine diskriminierungsfreie Anwendung ersetzt werden.

Arbeitgeber können nicht auf neue Tarifverhandlungen warten. Sie haften für diese Zuschläge jetzt.

„Das Gericht hat den Anspruch direkt zugesprochen, ohne den Tarifparteien die Möglichkeit zu geben, die diskriminierende Regelung vorab zu korrigieren”, stellte die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) am Freitag fest. „Aufgrund des europäischen Hintergrunds des Diskriminierungsverbots muss effektiver Rechtsschutz sofort gewährleistet sein.”

Durchbruch für Geschlechtergerechtigkeit

Das Urteil ist auch ein Meilenstein für die Gleichstellung: Da Frauen die deutliche Mehrheit der Teilzeitbeschäftigten in Deutschland stellen – im Einzelhandel sind es rund 64 Prozent –, benachteiligen Regelungen, die Teilzeitkräfte schlechter stellen, indirekt vor allem Frauen.

Die Gewerkschaft ver.di begrüßte die Entscheidung enthusiastisch. „Diese Entscheidung ist eine gute Nachricht für Teilzeitbeschäftigte und insbesondere für Millionen Frauen”, erklärte ver.di-Vorstandsmitglied Silke Zimmer. „Das Urteil stärkt den Grundsatz der Gleichbehandlung und sendet ein klares Signal gegen die Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten.”

Im Parallelfall einer Einzelhandelsmitarbeiterin aus Niedersachsen (5 AZR 155/22) wandte das Gericht dieselbe Logik an – ein Beleg dafür, dass es sich nicht um eine branchenspezifische Anomalie, sondern um ein allgemeines Prinzip des deutschen Arbeitsrechts handelt.

Was Unternehmen jetzt tun müssen

Rechtsberater dringen auf drei sofortige Maßnahmen:

  1. Verträge prüfen: Alle Arbeitsverträge und anwendbaren Tarifverträge auf „schwellenbasierte” Überstundenklauseln durchforsten.
  2. Lohnsysteme aktualisieren: Gehaltsabrechnungssoftware so anpassen, dass Zuschläge basierend auf individuellen Vertragsstunden ausgelöst werden, nicht nach einem globalen 40-Stunden-Standard.
  3. Nachzahlungen einkalkulieren: Beschäftigte können diese Zuschläge rückwirkend einfordern – in der Regel für bis zu drei Jahre, es sei denn, kürzere Ausschlussfristen in gültigen Arbeitsverträgen greifen.

„Arbeitgeber müssen mit Ansprüchen auf rückwirkende Zahlungen rechnen”, warnten Arbeitsrechtsexperten am Freitag. „Die Überprüfung der Gültigkeit von Ausschlussfristen wird das nächste große Schlachtfeld vor den Arbeitsgerichten.”

Ausblick: Die Ära der “günstigen” Teilzeit-Mehrarbeit ist vorbei

Dieses Urteil bringt die deutsche Rechtsprechung enger in Einklang mit jüngsten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der nationale Gesetze seit Jahren auf potenzielle Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten prüft.

In den kommenden Monaten dürfte eine Welle von „Korrektur-Vereinbarungen” in verschiedenen Tarifbereichen folgen. Gewerkschaften werden diese Entscheidung nutzen, um weitere Gleichstellungen bei Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Für Unternehmen ist die Ära „günstigerer” Überstunden durch Teilzeitkräfte definitiv vorbei – was 2026 wohl zu einer grundlegenden Neubewertung von Flexibilitätsstrategien beim Personal führen wird.

Die Botschaft aus Erfurt ist unmissverständlich: Teilzeitarbeit bedeutet nicht „Teilzeitrechte”. Eine Überstunde bleibt eine Überstunde – unabhängig davon, was im Vertrag als Basis steht.

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