BAG, EuGH

BAG und EuGH verschärfen Diskriminierungsschutz und Entgeltregeln

19.12.2025 - 00:41:12

In einer Schaltwoche für das deutsche und europäische Arbeitsrecht haben der Europäische Gerichtshof (EuGH) und das Bundesarbeitsgericht (BAG) wegweisende Urteile gefällt. Sie verschärfen den Schutz vor Diskriminierung und zwingen Unternehmen zu einer Überprüfung ihrer Vergütungssysteme.

Während der EuGH am Donnerstag mit Grundsatzentscheidungen zu ethnischer Diskriminierung und Haftung für Grundrechtsverletzungen aufwartete, setzt das BAG seine Linie für mehr Lohngerechtigkeit fort. Für Personalabteilungen und Rechtsberater bedeutet das: Kollektivverträge, Gehaltsstrukturen und Einstellungspraktiken müssen sofort auf den Prüfstand.

In einem Urteil vom 18. Dezember 2025 (Rechtssache C-417/23) stellte der EuGH klar: Die Kategorisierung von Wohngebieten als “Ghettos” anhand des Anteils von Bewohnern mit “nicht-westlichem” Hintergrund kann eine direkte Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft darstellen. Das dänische Gesetz sah für solche Gebiete drastische Maßnahmen wie Zwangsräumungen vor.

Was bedeutet das für die Personalarbeit?
„Das Gericht hat eindeutig gemacht, dass Stellvertreterkriterien für Ethnie – wie ‘nicht-westlicher’ Hintergrund – keine neutralen Merkmale sind“, erklärt Dr. Elena Weber, Arbeitsrechtsexpertin aus Berlin. „Unternehmen, die algorithmische Bewerberauswahl oder automatisierte Hintergrundchecks nutzen, müssen diese Tools dringend überprüfen.“ Eine Praxis, die eine bestimmte ethnische Gruppe unverhältnismäßig benachteiligt, ist nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) angreifbar – selbst wenn die Formulierung neutral erscheint.

EuGH-Urteil zu Frontex: Haftung für unterlassene Hilfe

In einer parallelen Entscheidung (C-679/23 P) stärkte der EuGH die Haftung für Grundrechtsverletzungen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex kann demnach schadensersatzpflichtig sein, wenn sie es unterlässt, schwerwiegende Rechtsverletzungen bei ihren Operationen zu verhindern. Die Behörde habe eine positive Handlungspflicht.

Übertrag auf die Unternehmenscompliance:
Dieses Urteil sendet ein Signal über den öffentlichen Sektor hinaus. „Es zeigt einen klaren Trend: Entitäten mit operativer Kontrolle oder Aufsichtspflicht können sich nicht hinter einer bloßen Koordinierungsrolle verstecken“, so Weber. Für Konzerne und Lieferkettenmanager unterstreicht das die Notwendigkeit rigoroser Sorgfaltspflichten. Die Gerichte könnten ähnlich strenge Maßstäbe an die Eingriffspflicht bei erkannten Menschenrechtsrisiken anlegen, wie sie im Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) angelegt sind.

BAG schließt “Teilzeitfalle” bei Überstundenzuschlägen

Unterdessen treibt das Bundesarbeitsgericht (BAG) seinen Kurs für die Gleichbehandlung von Teilzeitkräften weiter voran. In einem am 26. November 2025 veröffentlichten Urteil (42/25) erklärte das Gericht tarifvertragliche Klauseln für diskriminierend, die Überstundenzuschläge erst nach Überschreiten der Vollzeit-Arbeitszeit vorsehen.

Der Kern des Falls:
Eine Teilzeitkraft mit 20 Wochenstunden erhielt erst nach 39 geleisteten Stunden – der Vollzeitnorm – einen Zuschlag. Das BAG urteilte, dass dies eine ungünstigere Behandlung gemäß § 4 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) darstellt, sofern keine sachliche Rechtfertigung vorliegt. Teilzeitbeschäftigte haben Anspruch auf Zuschläge, sobald sie ihre individuell vereinbarte Arbeitszeit überschreiten.

Handlungsbedarf für die Lohnabrechnung:
„Das ist ein Weckruf für Gehaltsabteilungen“, warnt Weber. „Viele Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen nutzen noch immer die ‘Vollzeit-Schwelle’. Diese Klauseln sind seit Ende November praktisch unwirksam.“ Arbeitgeber müssen ihre Systeme umgehend anpassen, um die Überstundengrenze für Teilzeitkräfte anteilig zu berechnen. Andernfalls drohen rückwirkende Forderungen für bis zu drei Jahre.

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Hintergrund: Der “Paarvergleich” revolutioniert Entgeltgleichheit

Diese Entwicklung folgt auf ein bahnbrechendes BAG-Urteil vom 23. Oktober 2025 (38/25). Das Gericht erleichterte dabei den Beweis für Frauen in Entgeltgleichheitsklagen erheblich. Statt auf statistische Medianwerte oder komplexe Regressionen zu setzen, etablierte das BAG die „Paarvergleich“-Doktrin.

Reicht es nun aus, wenn eine Arbeitnehmerin einen einzigen männlichen Kollegen identifiziert, der gleichwertige Arbeit für mehr Geld verrichtet, kehrt sich die Beweislast um. Der Arbeitgeber muss dann nachweisen, dass die Gehaltsdifferenz auf objektive, geschlechtsneutrale Kriterien zurückgeht. Pauschale Verweise auf „bessere Verhandlungsfähigkeiten“ oder „Marktübliche“ gelten nicht mehr als ausreichende Verteidigung.

Analyse: Die Ära der pauschalen Praxis ist vorbei

Die Urteile des vierten Quartals 2025 zeichnen ein klares Bild: Die Gerichte schließen Lücken im Diskriminierungsschutz und setzen finanzielle Gleichbehandlung konsequent durch.

  1. Das Ende statistischer Verteidigungen: Sowohl der EuGH als auch das BAG lehnen Durchschnittswerte und pauschale Kategorisierungen als Rechtfertigung ab. Diskriminierung wird zunehmend aus der individuellen Perspektive betrachtet.
  2. Hohes Rückwirkungsrisiko: Das BAG-Urteil zu Teilzeit-Überstunden birgt erhebliche finanzielle Risiken. Rückzahlungsansprüche können drei Jahre rückwirkend geltend gemacht werden.
  3. Compliance-Fahrplan 2026:
    • Januar 2026: Überprüfung aller Überstundenregelungen. Teilzeitkräfte müssen Zuschläge ab Überschreiten ihrer vertraglichen Stunden erhalten.
    • Q1 2026: Analyse des „Entgeltgleichheits“-Risikos. Identifizieren Sie mögliche „Vergleichspaare“ und dokumentieren Sie objektive Gründe für Gehaltsunterschiede bevor eine Klage eingeht.
    • Laufend: Aktualisieren Sie Schulungen zur Diskriminierungsprävention, um „Stellvertreterdiskriminierung“ (z.B. über geografische Kriterien) gemäß den neuen EuGH-Standards einzubeziehen.

Die Botschaft aus Erfurt und Luxemburg ist eindeutig: Vergütungssysteme müssen transparent, verhältnismäßig und strikt begründbar sein. Die Zeit, in der man sich auf „übliche Praxis“ oder pauschale Ermessensspielräume berufen konnte, ist vorbei.

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