Reshoring, Industrie 4.0

Zurück nach Europa: Wie und warum immer mehr Unternehmen Asien den Rücken kehren

17.02.2022 - 08:30:00

Vielen Unternehmen führt die Coronapandemie ihre Abhängigkeit von globalisierten Handlungsstrukturen vor Augen. In einigen Führungsetagen gibt es aktuell Überlegungen, Industrieinfrastrukturen und Produktion zurück nach Europa zu holen. Der Trend zur Rückkehr ist dabei nicht so neu wie angenommen. Schon 2019 untersuchte eine wissenschaftliche Studie den möglichen Zusammenhang zwischen Industrie 4.0 und der Rückverlagerung von Produktionen nach Deutschland/Europa. Welche Folgen könnte dieser Trend haben? Ist eine Rückverlagerungsbewegung im großen Stil möglich? Welchen Herausforderungen müssen sich betroffene Unternehmen stellen?

  • Vom Outsourcing zum Reshoring  - Foto: Adobe Stock / Pugun & Photo Studio

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  • Fachkräftemangel - Foto: Adobe Stock / Blue Planet Studio

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Vom Outsourcing zum Reshoring

Jahrzehntelang wurde die Standortpolitik vieler europäischer Unternehmen von einem Gedanken geprägt: Produktionen wurden dorthin verlagert, wo es billige Arbeitskräfte gibt. Überwiegend waren damit asiatische Länder wie China gefragt. Outsourcing war das Gebot der Stunde. Seit einigen Jahren schon beobachten Experten eine Trendumkehr. Reshoring - die Rückverlagerung der Produktion nach Deutschland und Europa - erscheint vielen Unternehmen als attraktiv.

Die Coronakrise hat ihren Teil dazu beigetragen, dass europäische Unternehmer sich wieder unabhängiger von asiatischen Standorten und Produktionsstätten machen. Dabei zeigt sich bereits seit etwa 2003 ein Rückgang von Outsourcing-Aktivitäten. In der gleichen Zeit steigen die Rückverlagerungsbewegungen nach Europa kontinuierlich an.

Angetrieben wurde die damalige Abschwächung des Outsourcings auch durch die Perspektiven von Industrie 4.0. Unternehmen haben die Bedingungen in den asiatischen Ländern zunehmend als altmodisch und nicht mehr zeitgemäß empfunden. Das Automatisierungspotenzial und die vielen weiteren technischen Facetten von Industrie 4.0 eröffnen der europäischen Industrie neue Möglichkeiten. Firmen wollen personalintensive Produktionen hinter sich lassen und über Digitalisierung/Automatisierung ihre Produktivität erhöhen. Diese neuen Strukturen - so meinen viele Manager - lassen sich in Europa zielgerichteter und präziser umsetzen.

Die Bewegung "Zurück nach Europa" scheint durch die logistischen Verwerfungen der letzten Zeit Auftrieb zu bekommen. Insbesondere in so sensiblen Bereichen wie der Halbleiter-Produktion wurde den Unternehmen bewusst, wie kontraproduktiv eine zu große Abhängigkeit von outgesourcten Standorten sein. Sie treffen europäische Kernindustrien wie die Automobilproduktion ins Mark. Wer kann hier Monate auf Chips warten? Oder auf Pappe und Papier?

Ebenso heizen die steigenden Transportkosten Überlegungen an, Industriestandorte wieder nach Deutschland und Europa zu verlagern. Die chaotischen Zustände und exorbitanten Preissteigerungen etwa für Containertransporte haben viele europäische Unternehmen sehr verunsichert. Hohe Transportkosten machen mögliche Vorteile der niedrigen Personalkosten in Asien zunehmend zunichte.

Herausforderungen der Entwicklung

Wirtschaftspolitiker sehen die Trendumkehr beim Outsourcing positiv. Sie versprechen sich eine Stärkung des Wirtschaftsstandortes Europa. Dabei wird oft verkannt, dass sich rückkehrwillige Unternehmen mit einigen Schwierigkeiten auseinandersetzen müssen.

Hier stellen sich verschiedene Fragen:

1) Stehen in Europa genug Arbeitskräfte bereit? Selbst mit einem Höchstmaß an Automatisierung benötigen Unternehmen ein Mindestmaß an Personal. Mit dem Blick auf die Überalterung der europäischen Gesellschaften und den Fachkräftemangel wird es nicht einfach werden, größere Teile der Produktion wieder in Europa anzusiedeln. Die Rückverlagerung von Produktionsstätten könnte hier die Wanderungsaktivitäten aus Ländern wie Afrika befeuern, weil auch minderqualifizierte und schlechter bezahlte Arbeitskräfte benötigt werden. Ebenso sind Bewegungen von Süd nach Nord möglich.

2) Wo ist der ideale Standort? Unternehmen werden sich sehr genau überlegen müssen, in welchen europäischen Ländern eine Ansiedlung besonders attraktiv ist. Sollen es Kernländer der EU mit ihren komplexen regulatorischen Vorgaben sein? Oder sind osteuropäische Räume interessanter und lukrativer?

3) Die meisten rückkehrwilligen Unternehmen werden die Rückverlagerung mit einer Modernisierung ihrer Produktion verbinden. Das bedarf Zeit. Es wird nicht einfach für betroffene Firmen, einen reibungslosen Wechsel von Asien nach Europa zu organisieren. Auch die Standortproblematik regional kann eine Rolle spielen. Raum ist im Zentrum von Europa begrenzt.

In den letzten Jahrzehnten wurden Industriestandorte abgebaut. Die Diskussionen um die Ansiedlung der großen Tesla-Fabrik in Brandenburg zeigt, mit welchen Schwierigkeiten sich Unternehmen auseinandersetzen müssen. Im europäischen Raum ist das Bewusstsein für negative Effekte von Industrieansiedlungen auf Umwelt und Umgebung groß. Es wird für die Unternehmen zunehmend zum Problem, sämtliche Interessen zu vereinen.

Praktische Aspekte eines Umzugs bei Organisation, Personal und Co.

In der Praxis müssen sich umzugswillige Firmen ebenfalls auf organisatorische Probleme einstellen. Die Logistik eines Rückzuges ist anspruchsvoll. Anlagen und Maschinen müssen demontiert, Produkte und Infrastruktur transportiert werden. Unternehmen benötigen hoch professionelle Logistik Partner, um diese Anforderungen praktisch zu stemmen. Davon gibt es nicht viele. Daraus entstehen zusätzliche Kosten, die die Unternehmen auffangen müssen.

Auch das Führungspersonal aus anderen Ländern wird zumindest teilweise mit nach Europa ziehen. Auf gut eingearbeitete und erfahrene Fachkräfte werden die Firmen nicht verzichten wollen. Bei der bisweilen rigiden Einwanderungspolitik ist das im europäischen Umfeld nicht einfach. Partiell fehlen die politischen Voraussetzungen und der politische Wille, die Wirtschaft bei der Wiederansiedlung in Europa bestmöglich zu unterstützen. Unternehmen werden ihren politischen Einfluss geltend machen müssen, um für sich bessere Voraussetzungen zu erarbeiten.

Was sind die Vorteile für Gesamtwirtschaft und Verbraucher?

Die Neuansiedlung von Produktionsstätten steht für wirtschaftlichen Aufschwung und neue Arbeitsplätze. Dabei geht es nicht nur um die Standorte der Produktion selbst. Im Umfeld eines Produktionsbetriebes werden Bereiche wie Logistik, Zulieferung und Rohstoffhandel angetrieben. Produktion kann noch immer der Motor für wirtschaftliche Entwicklung und Wirtschaftskraft sein. Dieser Aspekt wurde zwar in den letzten Jahrzehnten in Europa in den Hintergrund gedrängt.

Gesamtwirtschaftlich gesehen können viele Menschen von mehr Produktion am europäischen Standort profitieren. Das gilt auch für den Verbraucher, der einen Arbeitsplatz sucht oder sich in einem wirtschaftlich aktiven Umfeld bewegen möchte. Strukturschwache Regionen können sich entwickeln. Zurückverlagerte Produktionen können viele Impulse in die gesamte Wirtschaft senden.

Potenzielle Nachteile der Entwicklung

Deutschland und Europa befinden sich mitten in einer großen Krise abseits von Corona. Die drohende Klimaerwärmung und damit einhergehende Wende im Energiesektor fordert alle Beteiligten. Mehr Produktionsstandorte in Europa stehen für einen höheren Energieverbrauch der Industrie. Rund um die Standorte bilden sich mehr Verkehr und Bewegung.

Produktionsstandorte können beispielsweise auch dazu beitragen, die Mieten in bestimmten Regionen weiter hochzutreiben. Industrie in der Nähe steht für Arbeitsplätze, das macht einige Standorte für Menschen interessanter. Es wollen in der Folge mehr Arbeitnehmer im Umfeld dieser Produktionsstätte wohnen und leben. Hier fehlt oftmals die Infrastruktur, die das möglich machen würde. Die Rückkehrbewegung von Produktionsstandorten ist deshalb nicht für sich isoliert zu betrachten. Sie wirkt sich auf viele weitere Bereiche aus.

Wird jetzt vieles teurer?

Die derzeitige Spirale von Preissteigerungen für den Verbraucher wird sich durch den Rückzug von Unternehmen nach Europa nicht abschwächen. Im Gegenteil, es ist mit weiteren Preissteigerungen für Produkte und Dienstleistungen zu rechnen. Arbeitskräfte in Europa sind teurer. Auch bei zunehmender Automatisierung wirkt sich dieser Aspekt aus.

Der Ausbau der Robotik und aus der Digitalisierung kostet Unternehmen Geld. Firmen werden diese Kosten auf Preise umlegen. Der Druck auf den Transportsektor wächst durch eine vergrößerte Anzahl von Produktionsstandorten weiter. Das kann Transportleistungen verteuern.

In Europa sind die Auflagen im Umweltschutz höher als in manchen asiatischen Ländern. Auch diese Kosten finden sich am Ende beim Verbraucher wieder. Hält sich wie zurzeit eine höhere Inflationsrate, können sich für erhebliche Preissteigerungen ergeben.

Fairerweise muss dabei eines gesagt werden: Die höheren Preise sind nicht allein auf den Rückzug von Unternehmen nach Europa zurückzuführen. In der jüngsten Vergangenheit haben bereits die gestiegenen Transportkosten in Asien und Produktionsengpässe die Preisspirale angetrieben. Es ist wahrscheinlich, dass sich durch die Rückverlagerung von Firmen in den europäischen Raum das erhöhte Preisniveau dauerhaft einpendelt.

Fazit

Die Reshoring-Bewegung bietet europäischen Unternehmen und der gesamten europäischen Wirtschaft spannende Perspektiven. Ob sie sich am Ende positiv oder eher negativ auswirkt, hängt maßgeblich von politischen Entscheidungen ab. Europas Wirtschaft hat eine große Chance, Wettbewerbsanteile auf globaler Ebene zurückzugewinnen. Das gelingt nur, wenn sich alle Beteiligten einig darüber sind, dass sie die Unternehmen wieder vor der Haustür haben wollen. Was selbstverständlich klingt, ist es nicht. Immer öfter wird mit Blick auf Umweltschutz, Klimaveränderung, Energiesparsamkeit und kritischer Betrachtung ein wichtiger Aspekt vergessen: Europas Geltung und Bedeutung auf globaler Ebene ist unmittelbar mit der europäischen Wirtschaftskraft verbunden.

@ ad-hoc-news.de