BMAS-Pläne: 123.000 Sicherheitsbeauftragte vor dem Aus
10.12.2025 - 04:21:12Der TÜV-Verband schlägt Alarm: Die Bundesregierung plant drastische Kürzungen bei betrieblichen Sicherheitsbeauftragten. Was bedeutet das für den Arbeitsschutz in Deutschland?
Die Debatte kommt zur Unzeit. Während Unternehmen gerade die Digitalisierung ihrer Arbeitsverträge unter dem vierten Bürokratieentlastungsgesetz meistern und sich auf neue KI-Schulungspflichten einstellen, droht ausgerechnet beim klassischen Arbeitsschutz ein radikaler Kahlschlag. Am 9. Dezember warnte der TÜV-Verband vor den Plänen des Bundesarbeitsministeriums – und die Zahlen haben es in sich.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) will mit seinem „Konzept für einen effizienten und bürokratiearmen Arbeitsschutz” die Vorschriften drastisch lockern. Die Kernpunkte: Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigten müssten künftig überhaupt keine Sicherheitsbeauftragten mehr bestellen. Bisher gilt die Pflicht bereits ab 20 Mitarbeitern. Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten kämen künftig mit einer einzigen Person aus.
„Bürokratieabbau ist ein wichtiges Ziel, aber wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten”, warnt Claudia Tautorus, Leiterin des Geschäftsfelds Industrie und Anlagentechnik beim TÜV-Verband. „Eine pauschale Absenkung von Sicherheitsstandards erhöht die Gesundheitsrisiken für Beschäftigte.”
Die Dimensionen der geplanten Reform sind beachtlich: Branchenexperten rechnen mit dem Wegfall von rund 123.000 Sicherheitsbeauftragten-Positionen. Diese Mitarbeiter – oft Kollegen, die die Sicherheitsaufgaben neben ihrer regulären Tätigkeit wahrnehmen – fungieren als unverzichtbare „Augen und Ohren” in der Produktion. Sie erkennen Gefahren, die externe Prüfer bei Stichproben leicht übersehen.
Das BMAS kalkuliert mit Einsparungen von etwa 200 Millionen Euro jährlich durch die gesamten Vereinfachungsmaßnahmen. Doch kann diese Rechnung aufgehen? Die Gewerkschaften bezweifeln das massiv. Hans-Jürgen Urban vom IG-Metall-Vorstand kritisierte bereits im Oktober scharf: Der Eingriff werde „die Sicherheit der Beschäftigten massiv gefährden” und durch steigende Unfallzahlen sowie Rehabilitationskosten letztlich teurer als die eingesparte Bürokratie.
Digitale Dokumentation: Das neue Normal seit Januar
Während die Sicherheitsbeauftragten-Debatte tobt, ziehen Personalabteilungen eine erste Bilanz des vierten Bürokratieentlastungsgesetzes (BEG IV), das am 1. Januar in Kraft trat. Die wichtigste Neuerung für den Arbeitsalltag: die Reform des Nachweisgesetzes.
Seit Jahresbeginn dürfen Arbeitgeber die wesentlichen Arbeitsbedingungen in Textform nachweisen – etwa per E-Mail mit PDF-Anhang. Die Ära der eigenhändigen Unterschrift auf Papier ist damit offiziell beendet. „Der digitale Abschluss von Arbeitsverträgen ist jetzt rechtssicher und praxistauglich”, bestätigen Rechtsexperten.
Was sich konkret geändert hat:
* Elternzeit-Anträge: Einreichung und Bearbeitung komplett digital möglich
* Arbeitszeugnisse: Mit Zustimmung des Mitarbeiters elektronisch ausstellbar
* Sicherheitsdokumentation: Der Trend zu „medienbruchfreien” Prozessen hat die Digitalisierung von Sicherheitsunterweisungen und Gefährdungsbeurteilungen beschleunigt – solange alle Beschäftigten Zugang haben
Für Sicherheitsverantwortliche bedeutete das 2025 den Umstieg von physischen Ordnern auf revisionssichere digitale Archive. Die Herausforderung: Digitale „Lesebestätigungen” für Sicherheitsunterweisungen müssen lückenlos dokumentiert werden, um im Haftungsfall standzuhalten.
DGUV Vorschrift 2: Flexibilität trifft Fachkräftemangel
Der 1. April brachte die nächste Zäsur: Die aktualisierte DGUV Vorschrift 2 trat in Kraft – die zentrale Unfallverhütungsvorschrift für Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Sifa).
Die Neufassung, entwickelt von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und umgesetzt durch Träger wie die BGHM, reagiert auf den Mangel an qualifizierten Sicherheitsfachleuten und moderne Arbeitsrealitäten.
Die wichtigsten Änderungen seit April:
* Digitale Betreuung: Sicherheitsfachkräfte und Betriebsärzte dürfen nun ausdrücklich bis zu einem Drittel ihrer Beratungsstunden digital absolvieren. In Pilotprojekten sind sogar 50 Prozent möglich. Das ermöglicht virtuelle Teilnahme an ASA-Sitzungen oder digitale Dokumentenprüfungen – die Erstbegehung muss jedoch physisch erfolgen.
* Erweiterte Kompetenzzentren: Das „alternative Betreuungsmodell” über Kompetenzzentren steht jetzt Betrieben mit bis zu 20 Beschäftigten offen (zuvor zehn). Kleinbetriebe können so Sicherheitsexpertise bei Bedarf abrufen, statt starre Einsatzstunden zu finanzieren.
* Neue Qualifikationen: Der Pool qualifizierter Sicherheitsfachkräfte wurde um Absolventen verwandter Felder wie Arbeitspsychologie und Ergonomie erweitert – für spezialisierte Sicherheitsstrategien.
Die Flexibilisierung hat 2025 Freiräume geschaffen, aber auch neue Pflichten: Externe Sicherheitsdienstleister müssen in ihren Jahresberichten nun explizit ihre Fortbildungsmaßnahmen dokumentieren. Das erhöht die Transparenz für Arbeitgeber über die Qualität ihrer externen Betreuung.
KI-Kompetenz: Die überraschende neue Sicherheitspflicht
Jenseits klassischer Sicherheitsstrukturen hat 2025 eine unerwartete Compliance-Dimension eingeführt: Künstliche-Intelligenz-Bildung.
Mit dem EU AI Act traten am 2. Februar die ersten verbindlichen Verpflichtungen in Kraft. Neben Verboten „unannehmbarer Risiko-KI” wie Social Scoring führte Artikel 4 eine allgemeine Pflicht ein, die direkt Sicherheitsschulungen betrifft.
Besonders relevant für:
* Automatisierte Maschinen: Mitarbeiter an KI-gesteuerten Robotern oder Cobots
* Überwachungssysteme: Personal, das KI-gestützte Sicherheits-Monitoring nutzt
„Seit dem 2. Februar 2025 verlangt der EU AI Act von Organisationen, dass Beschäftigte im KI-Einsatz über angemessene KI-Bildung verfügen”, bestätigen Rechtshinweise aus der Implementierungsphase. Konkret: Arbeitsschutz-Unterweisungen müssen jetzt Module zu Fähigkeiten, Grenzen und Risiken der eingesetzten KI-Systeme enthalten. Wer das versäumt, verstößt gegen den europäischen Rechtsrahmen.
Seit dem 2. Februar verlangt der EU AI Act, dass Beschäftigte im KI‑Einsatz über ausreichende KI‑Kompetenz verfügen – eine neue Pflicht, die Arbeitsschutz-Unterweisungen direkt verändert. Viele Unternehmen sind unsicher, welche Risikoklassen, Inhalte und Dokumentationspflichten jetzt gelten; Fehlannahmen können zu Haftungsrisiken und Bußgeldern führen. Der kostenlose Umsetzungsleitfaden zur KI‑Verordnung erklärt praxisnah Kennzeichnungspflichten, notwendige Schulungsmodule und konkrete Schritte für Arbeitgeber und Sicherheitsverantwortliche. Jetzt kostenlosen KI-Umsetzungsleitfaden herunterladen
Zusätzlich verbietet das Gesetz strikt Emotionserkennung am Arbeitsplatz – mit enger Ausnahme für medizinische oder Sicherheitsgründe. Logistikunternehmen mit Fahrer-Monitoring-Systemen (DMS) müssen akribisch prüfen: Erkennt die Software Müdigkeit (erlaubt für Sicherheit) oder Emotionen (verboten)? Das erfordert genaue Überprüfung der Softwarespezifikationen.
Ausblick: Was 2026 bringt
Während das Jahr zu Ende geht, richtet sich der Blick auf die politische Arena. Der BMAS-Vorschlag zu Sicherheitsbeauftragten befindet sich in der Konsultationsphase – gesetzgeberische Schritte werden für Anfang 2026 erwartet.
Die Ampel-Koalition unter Bundeskanzler Olaf Scholz steht zwischen den Fronten: Unternehmensverbände fordern Entlastung, Gewerkschaften warnen vor einem Sicherheitskollaps. Die Intervention des TÜV-Verbands diese Woche signalisiert: Die technische Sicherheits-Community wird die Reduzierung der Sicherheitsbeauftragten energisch bekämpfen.
Für Sicherheitsverantwortliche ist die Dezember-Checkliste eindeutig:
1. 2025-Dokumentation prüfen: Erfüllen alle digitalen Arbeits- und Sicherheitsnachweise die BEG-IV-Textform-Standards?
2. KI-Schulungen verifizieren: Enthalten die Unterweisungsmatrizen die seit Februar erforderlichen KI-Kompetenz-Module?
3. DGUV-Audits vorbereiten: Haben externe Sicherheitsanbieter ihre neuen Jahresberichte mit Qualifikationsnachweisen nach aktualisierter Vorschrift 2 eingereicht?
Der „Status quo” im deutschen Arbeitsschutz existiert faktisch nicht mehr. 2026 wird zeigen, ob die Effizienzgewinne von 2025 der Realität steigender Unfallstatistiken standhalten – oder ob Deutschland beim Arbeitsschutz einen teuren Rückschritt macht.
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