Hamburg prüft Cum-Ex und Cum-Cum: 1,1 Milliarden Euro auf dem Spiel
03.12.2025 - 18:10:12Die Hamburger Finanzbehörden haben ein Mammutprogramm vor sich: Aktuell durchleuchten sie fragwürdige Aktiengeschäfte, bei denen dem Staat möglicherweise 1,1 Milliarden Euro entgangen sind. Das geht aus einer Antwort des Senats auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, die heute bekannt wurde. Die schiere Dimension zeigt: Der größte Steuerskandal der Bundesrepublik wirft auch Jahre nach seiner Aufdeckung noch lange Schatten.
Die Zahlen haben es in sich. Sechs Cum-Ex-Fälle mit einem potenziellen Erstattungsvolumen von 483 Millionen Euro stehen auf der Liste – und neun Cum-Cum-Fälle mit sage und schreibe 641 Millionen Euro. Damit übersteigt das Volumen der Cum-Cum-Prüfungen erstmals das der klassischen Cum-Ex-Deals, was eine bemerkenswerte Verschiebung des behördlichen Fokus signalisiert.
Doch der Senat dämpft die Erwartungen: Wie viel von diesem Geld tatsächlich zurückgeholt werden kann, bleibt völlig offen. Die komplexen Finanzinstrumente, laufende Verjährungsfristen und zähe Gerichtsverfahren machen eine Prognose nahezu unmöglich. “Hamburg arbeitet diese Fälle derzeit auf, um das Ausmaß des Steuerschadens und die Erfolgsaussichten einer Rückforderung zu ermitteln”, heißt es in der Stellungnahme.
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Seit 2015 hat die Hansestadt immerhin 122,3 Millionen Euro durch rechtskräftige Entscheidungen zurückfordern können. Hinzu kommen 18,8 Millionen Euro an Zinsen aus Cum-Cum-Geschäften. Klingt erst einmal beeindruckend – doch gemessen an den nun bekannten Prüfvolumina ist das nur die Spitze des Eisbergs.
Was noch mehr aufhorchen lässt: Bis heute wurden im Zusammenhang mit diesen Fällen keinerlei Bußgelder verhängt. Null. Diese Tatsache treibt die Opposition auf die Barrikaden. “Hamburg hat sich bei den Bußgeldern komplett rausgehalten”, kritisiert David Stoop, haushaltspolitischer Sprecher der Linksfraktion, scharf. “Dem Senat muss klar sein: Wer den Staat – und damit unsere gesamte Gemeinschaft – um Milliarden betrügt, muss nach Recht und Gesetz bestraft werden.”
Die Zuständigkeiten beim Vorgehen gegen die Steuertricks sind verzwickt. Während die Hamburger Steuerbehörde für Prüfungsdienste und Strafsachen aktuell 36 Ermittlungsverfahren zu Cum-Cum-Deals bearbeitet, liegt die strafrechtliche Federführung nicht etwa in Hamburg – sondern bei der Staatsanwaltschaft Köln.
Der Grund: Das Bundeszentralamt für Steuern sitzt im nahegelegenen Bonn, was den nordrhein-westfälischen Behörden die primäre Zuständigkeit für diese speziellen Steuerdelikte verschafft. Konsequenz: Die Hamburger Staatsanwaltschaft hat seit 2015 keine eigenen Ermittlungsverfahren zu Cum-Cum-Transaktionen eingeleitet. Auch Anklagen oder Verurteilungen, die direkt aus Hamburg kamen, gab es in diesem Zeitraum nicht.
Diese Arbeitsteilung sorgt für Unmut. Während Hamburgs Steuerfahnder zwar die fiskalischen Schäden ermitteln und administrative Unterstützung leisten, liegt die kriminelle Verfolgung der Drahtzieher weitgehend in Bundes- und NRW-Hand. Das Ziel: Expertise bündeln. Die Realität: logistische Herausforderungen bei der bundesweiten Verfolgung eines Finanzskandals.
Cum-Ex vs. Cum-Cum: Betrug und Trickserei
Was unterscheidet die beiden Modelle eigentlich? Bei Cum-Ex-Geschäften wurden Aktien mit (“cum”) und ohne (“ex”) Dividendenanspruch blitzschnell rund um den Dividendenstichtag hin- und hergeschoben. Durch eine Lücke im Abrechnungssystem konnten mehrere Parteien Kapitalertragsteuer-Erstattungen kassieren, obwohl die Steuer nur einmal gezahlt worden war. Der Bundesgerichtshof hat diese Praxis mittlerweile eindeutig als Steuerhinterziehung verurteilt – ein “Griff in die Staatskasse”.
Cum-Cum-Deals funktionieren anders: Ein ausländischer Aktionär, der keinen vollen Steuererstattungsanspruch hat, verleiht seine Aktien kurz vor der Dividende an eine deutsche Bank oder einen inländischen Investor, der sehr wohl anspruchsberechtigt ist. Der deutsche Akteur holt sich die Steuererstattung und teilt den Gewinn mit dem ausländischen Eigner. Banken argumentierten lange, das sei eine legale Lücke. Doch neuere Urteile und verschärfte Regulierungen werten diese Konstrukte zunehmend als missbräuchliche Gestaltungen, die allein der Steuerumgehung dienen.
Die Tatsache, dass die Cum-Cum-Fälle in Hamburg (641 Millionen Euro) mittlerweile wertmäßig die Cum-Ex-Fälle (483 Millionen Euro) übertreffen, zeigt die strategische Neuausrichtung der Behörden. Denn bundesweit soll Cum-Cum den Staat schätzungsweise 30 Milliarden Euro gekostet haben – ein Vielfaches der Cum-Ex-Schäden.
Politisches Minenfeld Warburg
Die neuen Zahlen befeuern eine Debatte, die Hamburg seit Jahren verfolgt: die Rolle der Warburg Bank und die Frage, ob die Stadt unter den Bürgermeistern Olaf Scholz und Peter Tschentscher entschieden genug vorgegangen ist. Die Opposition wirft dem Senat vor, zu passiv zu agieren – besonders angesichts der historischen Verstrickungen.
Während der Senat betont, ordnungsgemäß zu handeln und sich auf die spezialisierten Ermittler in Köln zu verlassen, fordern Kritiker mehr Härte. Die Stadt solle ihre administrativen Befugnisse stärker nutzen, um die beteiligten Finanzinstitute in die Verantwortung zu nehmen. Das Fehlen jeglicher Bußgelder sei dabei besonders schmerzlich – gerade bei Cum-Cum-Deals, die zwar oft in einer rechtlichen Grauzone operierten, aber als aggressive Steuervermeidung gelten.
Lange Aufarbeitung, ungewisser Ausgang
Der Weg zur Rückforderung wird steinig. Die “Prüfung” dieser Fälle ist erst der Anfang eines jahrelangen administrativen und juristischen Marathons. Die involvierten Banken und Investoren werden die Rückforderungsbescheide mit allen Mitteln anfechten – Rechtsstreitigkeiten vor den Finanzgerichten sind vorprogrammiert.
Für den Hamburger Senat wird entscheidend sein, eine Verjährung dieser Ansprüche zu verhindern. Das Thema “Verjährung” zog sich wie ein roter Faden durch den Cum-Ex-Skandal, besonders beim Warburg-Fall, wo Millionen fast verjährt wären, hätte der Bund nicht interveniert. Mit 1,1 Milliarden Euro auf dem Spiel war der Druck auf die Finanzverwaltung nie größer, schnell und entschlossen zu handeln.
Steuerrechtler erwarten für 2026 eine Welle neuer Rückforderungsbescheide, sobald die Prüfungen abgeschlossen sind. “Das schiere Volumen der Hamburger Fälle zeigt: Wir sind längst nicht am Ende der Aufarbeitung”, erklärt ein Frankfurter Fachanwalt. “Finanzinstitute, die auf ein Unter-dem-Radar-Fliegen bei Cum-Cum hofften, müssen sich jetzt auf erhebliche Liquiditätsabflüsse einstellen.”
Die 1,1 Milliarden Euro sind mehr als eine Zahl – sie sind ein Menetekel. Sie erinnern daran, wie lukrativ die Steuerarbitrage-Industrie einst war und welche gigantischen Anstrengungen nötig sind, um ihr Erbe aufzuarbeiten. Für Hamburg werden die kommenden Monate zum Lackmustest: Kann die Stadt beweisen, dass sie es ernst meint mit der Aufklärung? Oder bleiben am Ende nur große Ankündigungen und kleine Erfolge?


