Fahrtzeit, Arbeitszeit

Fahrtzeit zählt als Arbeitszeit: EuGH zwingt deutsche Firmen zum Umdenken

04.12.2025 - 06:02:12

Ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs zählt Fahrten vom Einsatzort zum Sammelpunkt als Arbeitszeit, was Branchen wie Bau und Handwerk vor neue Herausforderungen stellt.

Montagmorgen, 6 Uhr: Der Baustellentrupp trifft sich am Betriebshof, steigt in den Firmenwagen – und ab diesem Moment läuft die Stempeluhr. Was nach einer Selbstverständlichkeit klingt, war es für viele deutsche Unternehmen bisher nicht. Doch der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem wegweisenden Urteil klargestellt: Auch die Rückfahrt vom Einsatzort zum Sammelpunkt ist Arbeitszeit. Für Baufirmen, Handwerksbetriebe und Außendienstler beginnt damit eine neue Zeitrechnung.

Die Entscheidung im Fall C-110/24 hat in dieser Woche eine Welle juristischer Warnungen ausgelöst. Rechtsexperten raten deutschen Arbeitgebern dringend, ihre Zeiterfassungssysteme und Arbeitsverträge zu überprüfen – sonst drohen Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz.

Das Urteil: Keine Ruhezeit mehr auf dem Rückweg

Der EuGH hat am 9. Oktober 2025 sein Urteil gefällt, doch erst jetzt wird das volle Ausmaß für die Praxis deutlich. Der Fall stammt aus Spanien: Das Unternehmen Vaersa beschäftigt Mitarbeiter im Naturschutz, die sich morgens an einem festgelegten Treffpunkt sammeln. Von dort geht es in Firmenfahrzeugen zu wechselnden Einsatzorten. Während Vaersa die Hinfahrt als Arbeitszeit wertete, galt die Rückfahrt zum Sammelpunkt als Ruhezeit.

Diese Unterscheidung kippte der EuGH. Das Gericht definierte drei klare Kriterien, die Fahrtzeiten zur Arbeitszeit machen:

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  1. Weisungsrecht des Arbeitgebers: Der Chef bestimmt Route, Fahrzeug und Zeitplan.
  2. Fehlende Verfügungsfreiheit: Die Beschäftigten können während der Fahrt ihre Zeit nicht frei nutzen.
  3. Dienstliche Notwendigkeit: Für Arbeitnehmer ohne festen Arbeitsplatz ist die Fahrt zwischen Sammelpunkt und Einsatzort integraler Bestandteil ihrer Tätigkeit.

Entscheidend: Die “Intensität” der Arbeit während der Fahrt spielt keine Rolle. Ob jemand am Steuer sitzt oder als Beifahrer mitfährt – die Zeit zählt als Arbeitszeit, wenn der Mitarbeiter dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen muss.

Massive Folgen für Bau, Handwerk und Außendienst

Die Auswirkungen treffen Branchen mit hohem Anteil mobiler Arbeitskräfte besonders hart. Das Handwerksblatt berichtete heute von einer Flut von Anfragen besorgter Unternehmer. “Die bisherige Praxis, die Fahrt zur Baustelle als Arbeitszeit zu zählen, den Rückweg aber als Freizeit – das ist nach EU-Recht nicht mehr haltbar”, so die einhellige Meinung von Rechtsexperten.

Das Problem mit der 10-Stunden-Grenze

Ein Rechenbeispiel macht die Brisanz deutlich: Eine Baukolonne arbeitet acht Stunden auf der Baustelle. Je eine Stunde Fahrt hin und zurück vom Betriebshof – macht zehn Stunden Arbeitszeit. Jeder Stau, jede Verzögerung reißt die gesetzliche Höchstarbeitszeit. Arbeitgeber, die das ignorieren, riskieren empfindliche Bußgelder.

Was ist ein Sammelpunkt?

Wichtig ist die Abgrenzung zum normalen Arbeitsweg: Der Weg von zu Hause zum Betriebshof gilt weiterhin als Privatangelegenheit und damit als Ruhezeit – vorausgesetzt, der Sammelpunkt ist nicht bereits der erste Einsatzort. Sobald der Mitarbeiter aber am Treffpunkt eintrifft und beispielsweise den Firmenwagen besteigt, beginnt die Arbeitszeit.

Arbeitszeit bedeutet nicht automatisch Bezahlung

Eine entscheidende Nuance, die in den juristischen Analysen dieser Woche deutlich wurde: Der EuGH regelt mit seinem Urteil primär Arbeitsschutz und Gesundheit, nicht zwingend die Vergütung.

Arbeitssicherheit (Arbeitszeitgesetz):
Für Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten müssen diese Fahrtzeiten 1:1 als Arbeitszeit gezählt werden. Punkt. Wer das missachtet, verstößt gegen das Arbeitszeitgesetz – mit erheblichen Konsequenzen.

Vergütung:
Wie diese Zeit bezahlt wird, regelt weiterhin nationales Recht und vor allem Tarifverträge. Allerdings: Nach deutschem Arbeitsrecht (§ 611a BGB) gilt grundsätzlich, dass Zeit, in der der Arbeitgeber die Kontrolle ausübt und der Arbeitnehmer nicht frei disponieren kann, vergütungspflichtig ist.

Viele Bautarifverträge sehen bereits spezielle Regelungen vor – etwa reduzierte Sätze für Fahrtzeiten oder pauschale Bauzuschläge. Unternehmen ohne solche Vereinbarungen müssen künftig wohl den regulären Stundenlohn auch für Fahrten zahlen. Das Urteil stärkt damit die Position von Arbeitnehmern, die bisher unbezahlte Fahrzeiten als Überstunden geltend machen.

Handlungsbedarf: Was Arbeitgeber jetzt tun müssen

Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) spricht von “weitreichenden Folgen für Kalkulation und Personalplanung”. Seit dem 4. Dezember 2025 kursieren in Branchenverbänden dringende Empfehlungen:

Sofortmaßnahmen für Betriebe:

  1. Fahrpraktiken überprüfen: Wo treffen sich Mitarbeiter zentral, bevor es zum Einsatzort geht?
  2. Verträge prüfen: Klauseln wie “Fahrtzeiten sind mit dem Monatsgehalt abgegolten” können unwirksam sein, besonders wenn sie zu Mindestlohn-Unterschreitungen führen.
  3. Zeiterfassung anpassen: Digitale Systeme müssen den Arbeitsbeginn am Sammelpunkt erfassen, nicht erst am Zielort.
  4. Routen optimieren: Um die 10-Stunden-Grenze einzuhalten, müssen Teams möglicherweise näher an ihren Einsatzorten starten – oder die reine Baustellenzeit verkürzen.

Neue Realität für mobile Beschäftigte

Der Fall C-110/24 markiert einen Wendepunkt: Der moderne Arbeitsplatz endet nicht am Werkstor. Für mobile Beschäftigte ist die Straße Teil des Jobs – und das erkennt nun auch das Recht an. Deutsche Unternehmen mit Außendienstlern, Montagekolonnen oder Servicetechnikern stehen vor einer umfassenden Neuorganisation ihrer Arbeitszeitmodelle.

Die Botschaft des EuGH ist unmissverständlich: Wer seine Mitarbeiter ins Auto setzt und den Weg vorgibt, muss auch die Zeit dafür rechnen. Für Arbeitnehmer bedeutet das mehr Schutz vor überlangen Arbeitstagen. Für Arbeitgeber beginnt die große Rechenarbeit – und die Suche nach neuen Lösungen zwischen Effizienz und Compliance.

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