EU-Lieferkettengesetz, Firmen

EU-Lieferkettengesetz dramatisch entschärft: 85 Prozent der Firmen befreit

10.12.2025 - 01:10:12

Die EU hat das geplante Lieferkettengesetz massiv abgeschwächt. Höhere Schwellenwerte und gestrichene Haftungsregeln entlasten tausende Unternehmen, während Kritiker einen Rückschritt für Menschenrechte sehen.

Die EU hat in der Nacht zum Dienstag das Lieferkettengesetz faktisch neu geschrieben. Statt 1.000 Beschäftigten gilt die Pflicht zur Prüfung von Menschenrechten künftig erst ab 5.000 Mitarbeitern – tausende Unternehmen sind damit raus. Was Wirtschaftsverbände als Befreiungsschlag feiern, nennen Kritiker das „Ende der menschenrechtlichen Sorgfalt” in Europa.

Die Verhandlungen in Brüssel dauerten bis in die Morgenstunden. Das Ergebnis: Die konservative EVP-Fraktion setzte sich mit Unterstützung rechter Gruppierungen durch. Bundeskanzler Friedrich Merz hatte die Revision zur Chefsache erklärt – sein Druck zeigt Wirkung.

Schwellenwerte verfünffacht: Wer muss noch prüfen?

Die Zahlen sind eindeutig. Das Gesetz greift künftig erst bei:

  • Mehr als 5.000 Mitarbeitenden (zuvor 1.000)
  • Mindestens 1,5 Milliarden Euro Jahresumsatz (zuvor 450 Millionen)

Europaweit fallen dadurch etwa 85 Prozent der ursprünglich erfassten Unternehmen aus dem Raster. Nur noch rund 1.500 Firmen müssen künftig detailliert über ihre Lieferketten berichten, bestätigt Jörgen Warborn, Verhandlungsführer des EU-Parlaments.

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Für den deutschen Mittelstand bedeutet das: weitgehende Entlastung von direkten Berichtspflichten. Genau das hatten BDI und Familienunternehmer seit Jahren gefordert.

Zwei zentrale Säulen gestrichen

Noch drastischer als die Anhebung der Schwellenwerte wirken die qualitativen Einschnitte:

Keine Zivilhaftung: Opfer von Menschenrechtsverletzungen können europäische Mutterkonzerne nicht mehr vor EU-Gerichten auf Schadensersatz verklagen. Die Industrie fürchtete eine Klagewelle – diese Sorge ist vom Tisch.

Klimapläne entfallen: Unternehmen müssen nicht mehr darlegen, wie sie ihr Geschäftsmodell an das 1,5-Grad-Ziel anpassen. Der Klimaschutz-Hebel des Gesetzes wurde faktisch gekappt.

Verstöße gegen die verbleibenden Pflichten können zwar mit Bußgeldern bis zu drei Prozent des Weltumsatzes geahndet werden. Doch bei stark reduzierter Firmenzahl und entschärfter Haftung sinkt die Wahrscheinlichkeit solcher Verfahren dramatisch.

Der “Merz-Effekt” in Brüssel

Friedrich Merz machte keinen Hehl daraus: Das Lieferkettengesetz ist für ihn ein „Bürokratiemonster”. Bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel brachte er sogar die komplette Abschaffung ins Spiel.

Der Kompromiss trägt seine Handschrift. Die CSU-Abgeordnete Angelika Niebler jubelt: „Das größte Entlastungspaket für Unternehmen, das es in der EU je gegeben hat.” Der Fokus hat sich Ende 2025 massiv verschoben – von Nachhaltigkeitsregulierung hin zu Deregulierung und Wettbewerbsfähigkeit.

Politische Beobachter sprechen vom „Merz-Effekt”, der die Mehrheitsverhältnisse im Europaparlament neu sortiert hat. Die EVP arbeitete offen mit rechten Fraktionen zusammen, um gegen Sozialdemokraten, Grüne und Linke zu gewinnen.

Erleichterung trifft auf Entsetzen

Die Reaktionen könnten unterschiedlicher nicht sein.

Wirtschaftsverbände atmen auf. VCI und BDI loben die „Rückkehr zur Vernunft”. Man könne nicht die Weltpolizei spielen, so der Tenor. Besonders die Streichung der Zivilhaftung bringe endlich Rechtssicherheit.

Zivilgesellschaft und Opposition sind entsetzt. Anna Cavazzini (Grüne), Vorsitzende des Binnenmarktausschusses, findet drastische Worte: „Die Konservativen haben heute Nacht den letzten Nagel in den Sarg des EU-Lieferkettengesetzes geschlagen.”

Organisationen wie Brot für die Welt warnen: „Made in Europe” könne nun wieder verstärkt mit Kinderarbeit und Umweltzerstörung verbunden sein – ohne Konsequenzen. Die „taz” kommentiert scharf: „Entschärft, bevor es überhaupt in Kraft getreten ist.”

Was bedeutet das für Deutschland?

Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) gilt seit 2023 als Vorreiter. Diese Rolle ist nun Geschichte. Bereits im November hatte das Bundeswirtschaftsministerium das BAFA angewiesen, Berichtspflichten rückwirkend auszusetzen.

Mit der neuen EU-Einigung ist der Weg frei: Die Bundesregierung wird das deutsche Gesetz noch diesen Winter anpassen. Für tausende Mittelständler mit 1.000 bis 4.999 Mitarbeitenden bedeutet das das sofortige Ende der Sorgfaltspflichten.

Wie geht es weiter?

Der formale Prozess läuft noch. Europaparlament und Mitgliedstaaten müssen den geänderten Text billigen. Angesichts der klaren Mehrheiten gilt das als Formsache.

Der Zeitplan:
* Januar 2026: Formale Ratifizierung im EU-Parlament
* Frühjahr 2026: Inkrafttreten der angepassten Richtlinie
* Bis Mitte 2026: Anpassung des deutschen LkSG

Die politische Großwetterlage scheint für die nächsten Jahre entschieden: Wettbewerbsfähigkeit schlägt Menschenrechtsschutz. Für Unternehmen bedeutet das Planungssicherheit – für den globalen Menschenrechtsschutz eine Phase der Stagnation.

Kann die Zivilgesellschaft in den kommenden Wochen noch mobilisieren? Die Chancen stehen schlecht. Der Paradigmenwechsel in Europa ist vollzogen.

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