BAG-Urteil, Mehrarbeit

BAG-Urteil: Überstundenzuschläge schon ab erster Mehrarbeit

06.12.2025 - 04:21:12

Die Spielregeln für Überstunden haben sich grundlegend geändert. Teilzeitbeschäftigte haben Anspruch auf Zuschläge, sobald sie ihre vertraglich vereinbarte Arbeitszeit überschreiten – nicht erst ab der 40-Stunden-Marke. Das Bundesarbeitsgericht hat Ende November eine jahrzehntelange Praxis für rechtswidrig erklärt. Die Konsequenzen für Millionen Beschäftigte und Unternehmen sind erheblich.

Die Entscheidung aus Erfurt trifft vor allem den Einzelhandel und Großhandel mit voller Wucht. Arbeitsrechtler und Branchenverbände schlagen Alarm: Unternehmen müssen ihre Vergütungssysteme sofort überprüfen und mit Nachzahlungen rechnen. Was genau bedeutet das Urteil für Arbeitnehmer und Arbeitgeber?

Das Bundesarbeitsgericht hat mit seinen Entscheidungen vom 26. November 2025 (Az. 5 AZR 118/23 und 5 AZR 155/22) eine klare Linie gezogen: Tarifverträge, die Überstundenzuschläge erst ab einer festen Stundengrenze vorsehen – unabhängig vom individuellen Arbeitszeitumfang – verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot.

Konkret ging es um Regelungen in den Manteltarifverträgen des bayerischen Groß- und Außenhandels sowie des niedersächsischen Einzelhandels. Ein Lagerarbeiter mit einem 30,8-Stunden-Vertrag hatte geklagt, weil ihm Zuschläge für die Stunden zwischen seiner Vertragsgrenze und der 40-Stunden-Schwelle verweigert wurden. Das BAG gab ihm Recht.

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Die Bundesrechtsanwaltskammer stellte am Donnerstag unmissverständlich fest: “Eine Tarifbestimmung, die Mehrarbeitszuschläge erst ab der 41. Wochenstunde vorsieht, verstößt gegen das Teilzeit-Diskriminierungsverbot.” Die Richter beriefen sich dabei auf den „Pro-rata-temporis-Grundsatz” aus § 4 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes.

Verhältnismäßigkeit wird Maßstab

Der Kern der Entscheidung liegt in der proportionalen Behandlung. Wenn ein Vollzeitbeschäftigter nach 40 Stunden einen Zuschlag erhält, muss ein Teilzeitbeschäftigter diesen Zuschlag erhalten, sobald er seine eigenen vertraglichen Stunden im gleichen Verhältnis überschreitet.

Das langjährige Arbeitgeber-Argument – Zuschläge kompensierten die körperliche Belastung durch absolut lange Arbeitszeiten – lässt das Gericht nicht mehr gelten. Rechtsexperten von Anwalt.de betonten am Donnerstag: „Die Mehrbelastung beginnt für Teilzeitbeschäftigte in dem Moment, in dem sie über ihre vereinbarte Verpflichtung hinaus arbeiten müssen.”

Diese Logik orientiert sich an der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Teilzeitarbeit darf nicht als „mindere” Arbeit behandelt werden. Die Messlatte für Zuschläge muss sich am individuellen Vertrag orientieren, nicht an einer pauschalen Vollzeit-Norm.

Gewerkschaften jubeln, Handel rechnet

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die beide Klagen unterstützt hatte, feiert das Urteil als Meilenstein für Lohngerechtigkeit. Vorstandsmitglied Silke Zimmer sprach von einem „überfälligen Schritt zur Gleichbehandlung” – und verwies auf die Geschlechterdimension des Themas.

„Etwa 64 Prozent der über drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten in Teilzeit, die große Mehrheit davon sind Frauen”, erklärte Zimmer. Das Urteil stärke das Gleichbehandlungsgebot und setze ein klares Signal gegen die Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten.

Für Arbeitgeber bedeutet die Entscheidung einen massiven Handlungsdruck. Besonders betroffen sind Einzelhandel, Großhandel und Dienstleistungsbranchen. Das BAG hat zwar die konkrete Berechnung der geschuldeten Beträge an die Instanzgerichte zurückverwiesen (Landesarbeitsgericht Nürnberg), das Haftungsprinzip aber unmissverständlich festgeschrieben.

Sofortiger Handlungsbedarf für Unternehmen

Arbeitsrechtler raten Unternehmen zu sofortigen Maßnahmen. Personalabteilungen sollten dieses Wochenende nutzen, um bestehende Tarifverträge und betriebliche Überstundenregelungen zu prüfen.

Rückwirkende Zahlungen: Beschäftigte können Ansprüche auf nicht gezahlte Zuschläge innerhalb der Verjährungsfristen geltend machen. Die reguläre Verjährung beträgt drei Jahre, wobei Tarifverträge kürzere Ausschlussfristen vorsehen können.

Vertragsanpassungen: Arbeitsverträge und Betriebsvereinbarungen, die die nun ungültigen Tarifklauseln widerspiegeln, müssen umgehend angepasst werden. Die neuen Regelungen müssen proportionale Zuschlagsgrenzen für Teilzeitbeschäftigte enthalten.

Abrechnungssysteme: Lohnsoftware ist häufig mit festen 40-Stunden-Schwellen für Überstundensätze konfiguriert. Diese Systeme müssen umprogrammiert werden, um dynamische, individuelle Grenzen für Teilzeitkräfte zu verarbeiten.

Die Entscheidung dürfte die kommenden Tarifverhandlungen 2026 erheblich beeinflussen. Gewerkschaften werden voraussichtlich explizite „Pro-rata”-Klauseln fordern, um künftige Streitigkeiten zu vermeiden. Die Botschaft aus Erfurt ist jedenfalls unmissverständlich: Teilzeitarbeit ist vollwertige Arbeit – und die Prämie für zusätzliche Leistung gilt ab der ersten Überstunde.

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