Protest, Benjamin Netanjahu

Die Regierung will mit aller Macht eine höchst umstrittene Justizreform durchsetzen.

27.03.2023 - 08:41:48

Netanjahu plant Rede an Nation - wird Justizreform gestoppt?. Nach der Entlassung eines Ministers kommt es zu Massenprotesten.

  • Die Polizei geht massiv gegen die Demonstranten vor. Hier eine Festnahme in Tel Aviv. - Foto: Ilia Yefimovich/dpa

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  • Israelische berittene Polizei treibt regierungskritische Demonstranten in Tel Aviv  auseinander. - Foto: Ilia Yefimovich/dpa

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Die Polizei geht massiv gegen die Demonstranten vor. Hier eine Festnahme in Tel Aviv. - Foto: Ilia Yefimovich/dpaIsraelische berittene Polizei treibt regierungskritische Demonstranten in Tel Aviv  auseinander. - Foto: Ilia Yefimovich/dpa

Massenproteste, ein Generalstreik und die Armee in Alarmbereitschaft: In Israel hat sich die politische Krise nach der Entlassung des Verteidigungsministers Joav Galant wegen dessen Kritik an einer umstrittenen Justizreform dramatisch zugespitzt.

Zehntausende Menschen strömten in der Nacht auf die Straße, um gegen die von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu angeordnete Entlassung und die Reformpläne seiner rechts-religiösen Regierung zu protestieren. Auch heute zog es Tausende Israelis auf die Straßen. In Tel Aviv versammelten sich Demonstranten mit israelischen Flaggen. Sie blockierten unter anderem eine zentrale Verbindungsstraße nach Jerusalem. Vor dem dortigen Parlament fanden sich Medienberichten zufolge ebenfalls Tausende Menschen ein. Auch in weiteren Städten gab es Kundgebungen.

Netanjahu hat sich erstmals seit der Entlassung seines Verteidigungsministers öffentlich zu Wort gemeldet. Auf Twitter rief er angesichts massiver Proteste zur Einheit und gegen Gewalt auf. «Ich rufe alle Demonstranten in Jerusalem, von rechts und von links, dazu auf, verantwortlich zu handeln und keine Gewalt anzuwenden. Wir sind Brüder», schrieb Netanjahu.

Der Dachverband der Gewerkschaften in Israel hat unterdessen einen «historischen» Generalstreik angekündigt. Betroffen war auch der internationale Flughafen Ben-Gurion bei Tel Aviv. Es wird erwartet, dass Zehntausende Passagiere warten oder umbuchen müssen.

Präsident für Stopp der Reform

Präsident Izchak Herzog rief die Regierung zum Einlenken auf. «Um der Einheit des israelischen Volkes willen, um der Verantwortung willen, fordere ich Sie auf, die Gesetzgebung sofort einzustellen», sagte er am frühen Morgen. Die Menschen seien in tiefer Angst.

Angesichts der brenzligen Lage hielt Netanjahu eine Dringlichkeitssitzung zum weiteren Vorgehen ab. Mit Koalitionspolitikern soll er über eine mögliche Aussetzung des Reformvorhabens beraten haben. Demnach plante Netanjahu noch heute eine Rede an die Nation. Die nach Medienberichten ursprünglich für 09.00 Uhr (MESZ) geplante Ansprache verzögerte sich am Vormittag. Hintergrund soll ein Streit innerhalb der Koalition sein. Demnach kündigten mehrere Minister an, zurücktreten zu wollen, sollte Netanjahu einen Stopp der Reform ankündigen.

Ungeachtet der Proteste hatte am Morgen ein Kernelement der umstrittenen Reform eine weitere Hürde genommen. Der Justizausschuss des Parlaments billigte den Gesetzestext, der die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses ändern soll. Der Entwurf wurde zugleich zur finalen Lesung ans Plenum überwiesen. Die Gesetzesänderung würde der Regierung eine Mehrheit in dem Gremium und damit einen erheblichen Einfluss auf die Ernennung von Richtern verschaffen.

Netanjahu hatte Galant am Vorabend wegen dessen Aufrufs zum Stopp der Justizreform entlassen. Gegen die Reform, mit der der Einfluss des Höchsten Gerichts beschnitten und die Machtposition der Regierung zulasten der unabhängigen Justiz gestärkt werden soll, gibt es seit Monaten heftige Proteste. Der bisherige Verteidigungsminister hatte am Samstagabend die Regierung zum Dialog mit Kritikern aufgerufen. Er warnte, dass die nationale Sicherheit und insbesondere die Einsatzfähigkeit der Armee auf dem Spiel stehe. Seit Wochen ist von wachsendem Unmut im Militär die Rede, aus Protest gegen die Reform waren zahlreiche Reservisten nicht zum Dienst erschienen.

Bürgermeister treten in Hungerstreik

Auf den Straßen bricht sich der Zorn vieler Menschen Bahn, die um die Demokratie in Israel fürchten. In Tel Aviv blockierten Demonstranten am Sonntagabend mit Israel-Fahnen die zentrale Straße nach Jerusalem und setzten Reifen in Brand. Die Polizei ging mit Reiterstaffeln und Wasserwerfern gegen die Menge vor, aus der Steine auf die Einsatzkräfte flogen. In Jerusalem durchbrachen wütende Menschen eine Straßensperre neben Netanjahus Wohnhaus, der Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet begab sich noch in der Nacht dorthin.

Universitäten verkündeten aus Protest gegen die Entlassung Galants und die Reformpläne einen vorläufigen Unterrichtsstopp. Mehrere Bürgermeister traten in den Hungerstreik und forderten eine sofortige Eindämmung der nationalen Krise.

Kritik auch aus dem Ausland

Die Oppositionspolitiker Jair Lapid und Benny Gantz forderten Netanjahus Parteikollegen in einer gemeinsamen Mitteilung auf, «sich nicht an der Zerstörung der nationalen Sicherheit zu beteiligen». Der Regierungschef habe «eine rote Linie überschritten».

Auch international lösen die Pläne Kritik aus. Die US-Regierung als wichtigster Verbündeter äußerte sich tief besorgt. Angesichts der geplanten «grundlegenden Änderungen an einem demokratischen System» rief das Weiße Haus die israelische Führung nachdrücklich auf, sobald wie möglich einen Kompromiss zu finden.

Die Bundesregierung äußert sich besorgt. Eindrucksvolle Appelle des israelischen Staatspräsidenten Herzog müssten und würden sehr ernst genommen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. «Als enge Freunde Israels mischen wir uns natürlich nicht in die inneren Angelegenheiten eines Staates ein, und trotzdem blicken wir natürlich mit Sorge auf das, was in den letzten Tagen und vor allem Stunden sich in Israel zuträgt», sagte er. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) habe schon beim Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ein «sehr offenes, gründliches Gespräch» geführt. Hebestreit sagte dazu: «Intern und auch in der Pressekonferenz hat der Bundeskanzler nochmal zum Ausdruck gebracht, wie wichtig eine unabhängige Justiz ist für eine Demokratie.»

Der ehemalige Ministerpräsident Naftali Bennett warnte, Israel befinde sich in der größten Gefahr seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Arabische Staaten hatten Israel damals überraschend am höchsten jüdischen Feiertag angegriffen. Bennett rief Netanjahu dazu auf, die Entlassung Galants zurückzunehmen, die Reform auszusetzen und einen Dialog mit den Gegnern aufzunehmen.

Sicherheitsexperten warnen, Feinde Israels - allen voran der Iran, die libanesische Hisbollah-Miliz sowie militante Palästinenserorganisationen im Gazastreifen - könnten die Gunst der Stunde für Angriffe auf das durch die Krise geschwächte Land nutzen.

@ dpa.de